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Das Primat der Wissenschaftlichkeit
»Le principe des sciences morales, et par conséquent ces sciences elles-mêmes, rentre-
roient dans le domaine de la physique; elles ne seroient plus qu'une branche de l'his-
toire naturelle de l'homme.«
(Das Prinzip der moralischen Wissenschaften und folglich diese Wissenschaften selbst
würden in den Bereich der Physik zurückkehren. Sie wären nicht mehr als ein Zweig der
Naturgeschichte des Menschen.)552
Cabanis verstand die »Science de l'homme« ohne Einschränkung als eine Naturwis-
senschaft. Der gemeinsame Ausgangspunkt der in ihr vereinigten Disziplinen, wozu
er »la physiologie, l'analyse des idées et la morale« (die Physiologie, die Untersu-
chung der Vorstellungen [i. e. die Psychologie] und die Moral)553 zählte, war die phy-
sische Organisation des Menschen.
Hier hat nun auch die Psychologie eine Veränderung ihres Stellenwertes und ihres
Charakters im Vergleich zu der Beschreibung erfahren, die Diderot etwa vierzigJahre
zuvor verfaßt hatte. Einerseits verselbständigte sie sich und war nicht mehrTeil einer
anderen Disziplin (der Philosophie). Diese Bedeutungssteigerung wurde begleitet
(und vielleicht erst ermöglicht) durch eine inhaltliche Verschiebung. Auch die Psy-
chologie basierte nun auf der Erforschung der menschlichen Physis. Cabanis hätte
also Diderots Zuordnung zur Metaphysik mit Sicherheit nicht akzeptieren kön-
nen554. Der Mediziner begründete die Zurückführung von Gemütsbewegungen auf
die physische Struktur des Menschen damit, daß das Leben eine Folge von Bewegun-
gen sei, die durch unterschiedliche Organe ausgelöst würden, wie auch die Gemüts-
bewegungen von einem Organ, nämlich dem Gehirn, ausgingen555. So stand für ihn
außer Frage, daß nur die Physiologie und die Medizin hier zu weiteren Erkenntnis-
sen verhelfen könnten,
». . . car il appartient exclusivement à ces deux sciences de faire connoître, d'une part, les
modifications régulières qui surviennent dans les organes parles fonctions mêmes de la
552 Ebd., S. 115, vgl. dazu auch ders., Du degré de certitude de la médecine, Paris 1798. In dieser
bereits Ende der achtziger Jahre verfaßten Schrift bezeichnete Cabanis die Medizin als die Basis
jeglicher Erkenntnis über den Menschen. Die Medizin allein sei in der Lage, den homme physique
zu verstehen. Der homme moralsei von diesem lediglich ein Teil, eine Facette: »Ainsi donc on peut
considérer la médecine comme fournissant des bases également solides à cette philosophie qui
remonte à la source des idées, et à cette autre philosophie qui remonte à la source des passions.«
(So kann man also sagen, daß die Medizin ähnlich solide Fundamente für die Philosophie liefert,
die bis zur Quelle der Ideen zurückgeht, und für die andere Philosophie, die zur Quelle der Lei-
denschaften zurückgeht.) ebd., S. 6 f.
553 Cabanis, op. cit. (Anm. 551), S. 126.
554 So betonte er zu seinem Vorgehen: »On ne trouvera point encore ici, ce qu'on avoit appelé long-
temps, de la >métaphysique<: ce seront de simples recherches de >physiologie< . . .« (Man wird hier
noch nichts von dem finden, was man lange Zeit >metaphysisch< genannt hat: Es werden einfache
Untersuchungen zur >Physiologie< sein ...) ebd., S. 121. Ganz ähnlich hatte auch Camper seine
Vorgehensweise beschrieben.
555 Ebd., S. 142.
Das Primat der Wissenschaftlichkeit
»Le principe des sciences morales, et par conséquent ces sciences elles-mêmes, rentre-
roient dans le domaine de la physique; elles ne seroient plus qu'une branche de l'his-
toire naturelle de l'homme.«
(Das Prinzip der moralischen Wissenschaften und folglich diese Wissenschaften selbst
würden in den Bereich der Physik zurückkehren. Sie wären nicht mehr als ein Zweig der
Naturgeschichte des Menschen.)552
Cabanis verstand die »Science de l'homme« ohne Einschränkung als eine Naturwis-
senschaft. Der gemeinsame Ausgangspunkt der in ihr vereinigten Disziplinen, wozu
er »la physiologie, l'analyse des idées et la morale« (die Physiologie, die Untersu-
chung der Vorstellungen [i. e. die Psychologie] und die Moral)553 zählte, war die phy-
sische Organisation des Menschen.
Hier hat nun auch die Psychologie eine Veränderung ihres Stellenwertes und ihres
Charakters im Vergleich zu der Beschreibung erfahren, die Diderot etwa vierzigJahre
zuvor verfaßt hatte. Einerseits verselbständigte sie sich und war nicht mehrTeil einer
anderen Disziplin (der Philosophie). Diese Bedeutungssteigerung wurde begleitet
(und vielleicht erst ermöglicht) durch eine inhaltliche Verschiebung. Auch die Psy-
chologie basierte nun auf der Erforschung der menschlichen Physis. Cabanis hätte
also Diderots Zuordnung zur Metaphysik mit Sicherheit nicht akzeptieren kön-
nen554. Der Mediziner begründete die Zurückführung von Gemütsbewegungen auf
die physische Struktur des Menschen damit, daß das Leben eine Folge von Bewegun-
gen sei, die durch unterschiedliche Organe ausgelöst würden, wie auch die Gemüts-
bewegungen von einem Organ, nämlich dem Gehirn, ausgingen555. So stand für ihn
außer Frage, daß nur die Physiologie und die Medizin hier zu weiteren Erkenntnis-
sen verhelfen könnten,
». . . car il appartient exclusivement à ces deux sciences de faire connoître, d'une part, les
modifications régulières qui surviennent dans les organes parles fonctions mêmes de la
552 Ebd., S. 115, vgl. dazu auch ders., Du degré de certitude de la médecine, Paris 1798. In dieser
bereits Ende der achtziger Jahre verfaßten Schrift bezeichnete Cabanis die Medizin als die Basis
jeglicher Erkenntnis über den Menschen. Die Medizin allein sei in der Lage, den homme physique
zu verstehen. Der homme moralsei von diesem lediglich ein Teil, eine Facette: »Ainsi donc on peut
considérer la médecine comme fournissant des bases également solides à cette philosophie qui
remonte à la source des idées, et à cette autre philosophie qui remonte à la source des passions.«
(So kann man also sagen, daß die Medizin ähnlich solide Fundamente für die Philosophie liefert,
die bis zur Quelle der Ideen zurückgeht, und für die andere Philosophie, die zur Quelle der Lei-
denschaften zurückgeht.) ebd., S. 6 f.
553 Cabanis, op. cit. (Anm. 551), S. 126.
554 So betonte er zu seinem Vorgehen: »On ne trouvera point encore ici, ce qu'on avoit appelé long-
temps, de la >métaphysique<: ce seront de simples recherches de >physiologie< . . .« (Man wird hier
noch nichts von dem finden, was man lange Zeit >metaphysisch< genannt hat: Es werden einfache
Untersuchungen zur >Physiologie< sein ...) ebd., S. 121. Ganz ähnlich hatte auch Camper seine
Vorgehensweise beschrieben.
555 Ebd., S. 142.