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Die Kunst der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ihre Reform
der Akademie der Wissenschaften und der Literatur von Dijon in einem Wettbewerb
ausgeschrieben worden. Rousseau errang mit seinem Beitrag die Goldmedaille. Die
Schrift, die er Anfang des Jahres 1751 drucken ließ, erreichte sofort einen hohen
Bekanntheitsgrad. Rousseau hatte darin die zu erörternde Frage negativ beantwortet.
Nach seiner Meinung waren Kunst und Wissenschaft - also wesentliche Bestandteile
von Zivilisation - maßgeblich beteiligt an dem moralischen Niedergang der moder-
nen Gesellschaften. In seiner Gegenüberstellung von ursprünglichem, natürlichem
und zivilisiertem menschlichen Verhalten sind einige Beobachtungen zu finden, die
bei Watelet wenige Jahre später ebenfalls auftauchten.
»Avant que l'art eut façonné nos manières et appris à nos passions à parler un langage
apprêté, nos mœurs étoient rustiques, mais naturelles; et la différence des procédés
annonçoit au premier coup d'œil celle des caractères ...
Aujourd'hui que des recherches plus subtiles et un goût plus fin ont réduit l'art de plaire
en principes, il règne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les
esprits semblent avoir été jettés dans un même moule: sans cesse la politesse exige, la
bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie.«
(Ehe noch die Kunst unser äußerliches Wesen geformt und unseren Leidenschaften
eine gekünstelte Sprache in den Mund gelegt hatte, waren unsere Sitten zwar bäurisch,
aber natürlich, und die Verschiedenheit der Lebensart verriet beim ersten Anblick die
Verschiedenheit des Charakters...
Heutzutage aber, da man durch spitzfindigere Untersuchungen und einen verfeinerte-
ren Geschmack die Kunst zu gefallen in Regeln gebracht hat, herrscht in unseren Sitten
eine niedrige und betrügerische Einförmigkeit, und alle Gemüter scheinen nach einem
Muster gebildet zu sein: immer fordert die Höflichkeit und gebietet der Anstand,
immer folgt man angenommenen Gebräuchen und niemals seinem eigenen Sinne.)307
Watelet teilte zwar den kulturkritischen Ansatz Rousseaus nicht, grundsätzlich
war er jedoch wie dieser der Ansicht, daß die Zivilisation den Menschen von seiner
Natürlichkeit entfernt und seine Verhaltensweisen einschneidend verändert hat. Bei-
den ging es um eine Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes. Jedoch strebte
Rousseau diese Rekonstruktion in der Realität an, Watelet hingegen auf theoretisch-
wissenschaftlicher Ebene. Dieses Anliegen der Naturerkenntnis, die die Vorausset-
zung bilden sollte für eine künstlerische Arbeit, machte es noch fast vierzigjahre spä-
ter dem Anatom Jean-Joseph Sue möglich, sich auf die Ausführungen des Kunst-
theoretikers zu beziehen und diese als »suivant l'ordre de la nature« (der Ordnung
der Natur folgend)308 zu bezeichnen. Und auch Louis de Jaucourt gab als wesentli-
307 Jean-Jacques Rousseau, Discours si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer
les mœurs. Par un citoyen de Genève, in: ders., Œuvres complètes, 4 Bde., Paris 1959-1969
(Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 3, S. 8 (Übers, zit. n. Jean-Jacques Rousseau, Schriften, hrsg. v.
Henning Ritter, 2 Bde., München/Wien 1978, Bd. 1, S. 35).
308 Jean-Joseph Sue, Essai sur la physiognomie des corps vivans, considérée depuis l'homme jusqu'à
la plante. Ouvrage où l'on traite principalement de la nécessité de cette étude dans les arts d'imita-
tions, des véritables règles de la beauté et des grâces, des proportions du corps humain, de l'expres-
Die Kunst der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und ihre Reform
der Akademie der Wissenschaften und der Literatur von Dijon in einem Wettbewerb
ausgeschrieben worden. Rousseau errang mit seinem Beitrag die Goldmedaille. Die
Schrift, die er Anfang des Jahres 1751 drucken ließ, erreichte sofort einen hohen
Bekanntheitsgrad. Rousseau hatte darin die zu erörternde Frage negativ beantwortet.
Nach seiner Meinung waren Kunst und Wissenschaft - also wesentliche Bestandteile
von Zivilisation - maßgeblich beteiligt an dem moralischen Niedergang der moder-
nen Gesellschaften. In seiner Gegenüberstellung von ursprünglichem, natürlichem
und zivilisiertem menschlichen Verhalten sind einige Beobachtungen zu finden, die
bei Watelet wenige Jahre später ebenfalls auftauchten.
»Avant que l'art eut façonné nos manières et appris à nos passions à parler un langage
apprêté, nos mœurs étoient rustiques, mais naturelles; et la différence des procédés
annonçoit au premier coup d'œil celle des caractères ...
Aujourd'hui que des recherches plus subtiles et un goût plus fin ont réduit l'art de plaire
en principes, il règne dans nos mœurs une vile et trompeuse uniformité, et tous les
esprits semblent avoir été jettés dans un même moule: sans cesse la politesse exige, la
bienséance ordonne: sans cesse on suit des usages, jamais son propre génie.«
(Ehe noch die Kunst unser äußerliches Wesen geformt und unseren Leidenschaften
eine gekünstelte Sprache in den Mund gelegt hatte, waren unsere Sitten zwar bäurisch,
aber natürlich, und die Verschiedenheit der Lebensart verriet beim ersten Anblick die
Verschiedenheit des Charakters...
Heutzutage aber, da man durch spitzfindigere Untersuchungen und einen verfeinerte-
ren Geschmack die Kunst zu gefallen in Regeln gebracht hat, herrscht in unseren Sitten
eine niedrige und betrügerische Einförmigkeit, und alle Gemüter scheinen nach einem
Muster gebildet zu sein: immer fordert die Höflichkeit und gebietet der Anstand,
immer folgt man angenommenen Gebräuchen und niemals seinem eigenen Sinne.)307
Watelet teilte zwar den kulturkritischen Ansatz Rousseaus nicht, grundsätzlich
war er jedoch wie dieser der Ansicht, daß die Zivilisation den Menschen von seiner
Natürlichkeit entfernt und seine Verhaltensweisen einschneidend verändert hat. Bei-
den ging es um eine Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes. Jedoch strebte
Rousseau diese Rekonstruktion in der Realität an, Watelet hingegen auf theoretisch-
wissenschaftlicher Ebene. Dieses Anliegen der Naturerkenntnis, die die Vorausset-
zung bilden sollte für eine künstlerische Arbeit, machte es noch fast vierzigjahre spä-
ter dem Anatom Jean-Joseph Sue möglich, sich auf die Ausführungen des Kunst-
theoretikers zu beziehen und diese als »suivant l'ordre de la nature« (der Ordnung
der Natur folgend)308 zu bezeichnen. Und auch Louis de Jaucourt gab als wesentli-
307 Jean-Jacques Rousseau, Discours si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer
les mœurs. Par un citoyen de Genève, in: ders., Œuvres complètes, 4 Bde., Paris 1959-1969
(Bibliothèque de la Pléiade), Bd. 3, S. 8 (Übers, zit. n. Jean-Jacques Rousseau, Schriften, hrsg. v.
Henning Ritter, 2 Bde., München/Wien 1978, Bd. 1, S. 35).
308 Jean-Joseph Sue, Essai sur la physiognomie des corps vivans, considérée depuis l'homme jusqu'à
la plante. Ouvrage où l'on traite principalement de la nécessité de cette étude dans les arts d'imita-
tions, des véritables règles de la beauté et des grâces, des proportions du corps humain, de l'expres-