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Kirchner, Thomas
L' expression des passions: Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts — Mainz: von Zabern, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.72614#0276

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272 Zur Korrektur der Gattungshierarchie

den offensichtlich unmittelbar zuvor verstorbenen Vater herumgruppiert und brin-
gen ihre Bestürzung und Trauer in unterschiedlicher Form zum Ausdruck. Entspre-
chend der Thematik ist hier die Dynamik zurückgedrängt, die das Pendant auszeich-
net. Die Komposition wird links durch die am Kopfende des Bettes sitzende Tochter
und rechts durch den in den Raum eintretenden Sohn begrenzt.
Greuze hat bei beiden Bildern eine ganze Reihe klassischer Anleihen gemacht. Zu
nennen sind hier zum Beispiel die Figur des Laokoon, die als Vorbild für den versto-
ßenen Sohn in dem »Väterlichen Fluch« diente435, für den Anwerber wurde auf die
antike Skulptur des Antinous hingewiesen436. Bei einzelnen Figuren im »Bestraften
Sohn« ist auch eine Beziehung zu Rembrandts Radierung »Die Auferweckung des
Lazarus« gesehen worden437. Die Komposition dieses Gemäldes zeigt deutlich Ein-
flüsse von zwei Werken Poussins, die ebenfalls den Tod eines Menschen zum Gegen-
stand haben: »Der Tod des Germanicus« und »Das Testament des Eudamidas«
(Abb. 65). Zudem erinnern beide Bilder von Greuze mit ihrem flachen, bildparalle-
len Raum und ihrem Aufbau an antike Friese. Über den normalen Rahmen kompo-
sitioneller Anleihen hinaus geht eine Verfahrensweise, die in dem »Väterlichen
Fluch« bei der Darstellung der beiden Töchter festgestellt werden kann: das Zitieren
von klassischen, ikonographisch festgelegten Figurentypen. Diese bisher bei Greuze
übersehene Form der Aneignung wurde von Busch zuerst für Hogarth nachgewie-
sen438, dessen Einfluß hier durchaus prägend gewesen sein könnte. So folgt die Figur
der ihren Vater besänftigenden Tochter der Ikonographie der klagenden Maria Mag-
dalena, und auch ihre den Bruder anflehende Schwester läßt sich aus einer religiösen
Thematik herleiten. Ebenso ist die am Kopfende des Bettes sitzende Tochter in »Der
bestrafte Sohn« auf eine solche Quelle zurückzuführen.
Nach dem bisher Gesagten überrascht es nicht, auch Übernahmen aus Le Bruns
Traktat zu finden. Vielleicht am offensichtlichsten ist dies im »Väterlichen Fluch« bei
der Darstellung des Vaters festzustellen. Auch wenn dieser aufzuspringen versucht,
so erklärt diese Bewegung doch nicht seine abstehenden, wehenden Haare. Sie sind
eine literarische Zutat, die von Le Brun stammt. Der Ausdruck des Vaters stimmt
ziemlich genau mit Le Bruns »Extreme desespoir« (Abb. 69) überein (dort ebenfalls
die sich sträubenden Haare als Ausdrucksmerkmal). Die von Greuze gewählte
Ansicht erinnert an den Kopf eines der Engel, die Heliodor in Raphaels gleichnami-
gem Fresko im Vatikan aus dem Tempel vertreiben. Der Kopf gehörte zu einem der
meist reproduzierten Details nach Werken von Raphael und wurde besonders auch
zur Künstlerausbildung herangezogen (Abb. 70 oben)439. Die Mimik des Sohnes ist

435 Siehe Sauerländer, op. cit. (Anm. 413), S. 150.

436 Siehe Kat. Ausst. Greuze, op.cit. (Anm. 416), S. 182.

437 Siehe ebd., S. 190.

438 Siehe Busch, op. cit. (Anm. 411), passim.

439 Zum Vergleich sei als zeitlich relativ nahes Beispiel eine Abbildung aus dem Illustrationsband der
»Encyclopédie« zu dem Artikel »Dessein« ausgewählt.
 
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