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J. Neuwik.'JH Stileinheit und Stilreinheil in ihren Beziehungen zur Denknudpfiege
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der Stilreinheit und Stileinheit bei den aus dem
Mittelalter stammenden Kirchen offenbar gänzlich
unbekannt, weder vorgeschrieben noch praktisch
geübt. Das Nebeneinander romanischer und
gotischer Formen, die sich mit Renaissance-,
Barock- und Rokokobeigaben anstandslos
vertrugen, erregte unbestreitbar weder An-
stoß noch öffentliches Ärgernis, zu welchem
es erst von dem im XIX. Jh. erwachten und
leider wohl nur schwer wieder ausrottbaren
Purismus hinaufgeschraubt wurde; denn es
konnte ohne Kenntnis und ohne Billigung
der kirchlichen Behörde, die daran gewiß
nicht etwas der Kult Würdigkeit Abträgliches,
geschweige denn eine Verunstaltung des vor-
handenen Zustandes sah, weder entstehn noch
bestehn. Darum nimmt es sich wohl mehr als merk-
würdig aus, wenn für die Regotisierung einer unserer
interessantesten Stadtpfarrkirchen, die um 17 30 eine
Wölbungsänderung mit sehr erhaltenswerten Stuck-
verzierungen und gut wirkendem Gemäldeschmuck
erfuhr und auch in dieser Form durch fast zwei
Jahrhunderte unbeanstandete Erbauungsstätte unge-
zählter Gläubigen blieb, von kirchlich maßgebendster
Stelle gegen die einige Erhaltungseingriffe benöti-
gende Belassung des gegebenen Bestandes geltend
gemacht wird, „eine Wiederbelebung der im XVIII. Jh.
erfolgten Verunstaltung der Kirche würde bei der
Nachwelt große Nachreden verursachen“. Die an-
gebliche Verunstaltung, welche der prächtigen Raum-
wirkung des Gotteshauses niemals Eintrag getan hat,
noch auch bis vor wenigen Jahren selbst an betreffen-
der Stelle als solche empfunden worden zu sein
scheint, ist um 1730 sicher — sonst wäre sie über-
haupt nicht zugelassen worden — gerade von kirch-
licher Seite als eine zeitensprechende Kultwürdigkeit
betrachtet und auch bis in die jüngste Zeit nicht
angefochten worden. Bis zum heutigen Tage ist aber
trotz ihrer Belassung weder eine große noch eine
kleine Nachrede bei der Nachwelt entstanden, die
eine eventuelle Regotisierung mit ihren aufgezwun-
genen Formen kaum höher einschätzen wird, als es
jetzt der einst zweifellos mit Zustimmung der kirch-
lichen Behörde durchgeführten Veränderung wider-
fährt. Was heute in der betreffenden Kirche
enthalten ist, ist schützenswerter Ausdruck
des leb endigen Kunst wollenseiner schaffens-
frohen Zeit, was sie zum Teil verdrängen soll,
ein problematischerGalvanisierungsversuch
längst verbrauchter Formen, deren peinlich-
ste Nachbildung der verfeinerten Routine
gewiß nicht unerreichbar, aber immerhin
mehr handwerksmäßig bleibt und den Geist
der Vergangenheit zwar äußerlich nachbetet,
ohne innerlich davon erfüllt sein zu können.
Konrad Lange sagt in seiner Festrede über „Die
Grundsätze der modernen Denkmalpflege“ (25. Fe-
bruar 1906) im Anschlüsse an die Feststellung der
Selbsttäuschung, als ob wir gerade jetzt den Höhe-
punkt der Restauration Stätigkeit erreicht hätten und
gerade in diesem Augenblicke wirklich und wahr-
haftig im Stile der Gotik und Renaissance bauen
könnten, sehr zutreffend: „Niemand kann aus
seiner Haut heraus- und in die eines andern
hineinfahren.“ Ein wirklicher Künstler des
XX. Jhs. kann wohl die Formen früherer Stilent-
wicklungen verstehen und bis zu einem gewissen
Grade kopieren, wird jedoch sein eigenes Emp-
finden und die Selbständigkeit seiner Aus-
drucksmittel, mit denen er allein den Anspruch
unvergänglichen Gedenkens zu erwerben vermag,
nicht in Nachahmungsaufträgen vergraben.
Die sich mit letzteren so gern befassende Mittel-
mäßigkeit, die von eigener Kunst nicht viel zu
vergeben hat und daher teilweise dazu gedrängt
wird, ihre Größe wenigstens in der Nachahmung
älterer Kunst zu suchen, wird durch dieselbe wohl
schwerlich den künstlerischen Ursprünglich-
keitswert eines im Laufe der Zeiten mannig-
fach veränderten Baudenkmales zurückge-
winnen.
Gerade bei dem eventuellen Zugeständnisse
der Notwendigkeit zurückzugewinnender Stilrein-
heit und Stileinheit kämen die konsequen-
testen Puristen wiederholt in die größte
Verlegenheit, wofür sie sich eigentlich ent-
scheiden sollten. Denn sehr viele Gotteshäuser,
die in romanischer oder Übergangszeit begonnen und
während der gotichen Epoche vollendet, beziehungs-
weise in letzterer vom Grund aus errichtet wurden,
aber alle Entwicklungsphasen der Gotik an ihrem
Baukörper höchst instruktiv verfolgen lassen, haben
durch Beigaben nichtmittelalterlicher Stile verschie-
dene Veränderungen erfahren. Sollen nun diese allein
dem Fanatismus der Stileinheit und Stilreinheit zum
Opfer fallen und hat derselbe vor den Unterschieden
des Früh-, Hoch- und Spätromanischen und den nicht
minder augenfälligen Verschiedenheiten früh-, hocli-
und spätgotischer Ausdrucksmittel Halt zu machen?
Denn die Stil ein heit und Stilreinheit kann nur
eine sein, wie schon das Wort sagt. Verlangt man
bei Regotisierung mittelalterlicher Kirchen die Be-
seitigung von Renaissance- und Barockzutaten, dann
wird die Zurückversetzung einer in romanischer Zeit
begonnenen, in gotischer Zeit vollendeten oder durch
gotische Zubauten erweiterten Kirche die wirkliche
J. Neuwik.'JH Stileinheit und Stilreinheil in ihren Beziehungen zur Denknudpfiege
6o
der Stilreinheit und Stileinheit bei den aus dem
Mittelalter stammenden Kirchen offenbar gänzlich
unbekannt, weder vorgeschrieben noch praktisch
geübt. Das Nebeneinander romanischer und
gotischer Formen, die sich mit Renaissance-,
Barock- und Rokokobeigaben anstandslos
vertrugen, erregte unbestreitbar weder An-
stoß noch öffentliches Ärgernis, zu welchem
es erst von dem im XIX. Jh. erwachten und
leider wohl nur schwer wieder ausrottbaren
Purismus hinaufgeschraubt wurde; denn es
konnte ohne Kenntnis und ohne Billigung
der kirchlichen Behörde, die daran gewiß
nicht etwas der Kult Würdigkeit Abträgliches,
geschweige denn eine Verunstaltung des vor-
handenen Zustandes sah, weder entstehn noch
bestehn. Darum nimmt es sich wohl mehr als merk-
würdig aus, wenn für die Regotisierung einer unserer
interessantesten Stadtpfarrkirchen, die um 17 30 eine
Wölbungsänderung mit sehr erhaltenswerten Stuck-
verzierungen und gut wirkendem Gemäldeschmuck
erfuhr und auch in dieser Form durch fast zwei
Jahrhunderte unbeanstandete Erbauungsstätte unge-
zählter Gläubigen blieb, von kirchlich maßgebendster
Stelle gegen die einige Erhaltungseingriffe benöti-
gende Belassung des gegebenen Bestandes geltend
gemacht wird, „eine Wiederbelebung der im XVIII. Jh.
erfolgten Verunstaltung der Kirche würde bei der
Nachwelt große Nachreden verursachen“. Die an-
gebliche Verunstaltung, welche der prächtigen Raum-
wirkung des Gotteshauses niemals Eintrag getan hat,
noch auch bis vor wenigen Jahren selbst an betreffen-
der Stelle als solche empfunden worden zu sein
scheint, ist um 1730 sicher — sonst wäre sie über-
haupt nicht zugelassen worden — gerade von kirch-
licher Seite als eine zeitensprechende Kultwürdigkeit
betrachtet und auch bis in die jüngste Zeit nicht
angefochten worden. Bis zum heutigen Tage ist aber
trotz ihrer Belassung weder eine große noch eine
kleine Nachrede bei der Nachwelt entstanden, die
eine eventuelle Regotisierung mit ihren aufgezwun-
genen Formen kaum höher einschätzen wird, als es
jetzt der einst zweifellos mit Zustimmung der kirch-
lichen Behörde durchgeführten Veränderung wider-
fährt. Was heute in der betreffenden Kirche
enthalten ist, ist schützenswerter Ausdruck
des leb endigen Kunst wollenseiner schaffens-
frohen Zeit, was sie zum Teil verdrängen soll,
ein problematischerGalvanisierungsversuch
längst verbrauchter Formen, deren peinlich-
ste Nachbildung der verfeinerten Routine
gewiß nicht unerreichbar, aber immerhin
mehr handwerksmäßig bleibt und den Geist
der Vergangenheit zwar äußerlich nachbetet,
ohne innerlich davon erfüllt sein zu können.
Konrad Lange sagt in seiner Festrede über „Die
Grundsätze der modernen Denkmalpflege“ (25. Fe-
bruar 1906) im Anschlüsse an die Feststellung der
Selbsttäuschung, als ob wir gerade jetzt den Höhe-
punkt der Restauration Stätigkeit erreicht hätten und
gerade in diesem Augenblicke wirklich und wahr-
haftig im Stile der Gotik und Renaissance bauen
könnten, sehr zutreffend: „Niemand kann aus
seiner Haut heraus- und in die eines andern
hineinfahren.“ Ein wirklicher Künstler des
XX. Jhs. kann wohl die Formen früherer Stilent-
wicklungen verstehen und bis zu einem gewissen
Grade kopieren, wird jedoch sein eigenes Emp-
finden und die Selbständigkeit seiner Aus-
drucksmittel, mit denen er allein den Anspruch
unvergänglichen Gedenkens zu erwerben vermag,
nicht in Nachahmungsaufträgen vergraben.
Die sich mit letzteren so gern befassende Mittel-
mäßigkeit, die von eigener Kunst nicht viel zu
vergeben hat und daher teilweise dazu gedrängt
wird, ihre Größe wenigstens in der Nachahmung
älterer Kunst zu suchen, wird durch dieselbe wohl
schwerlich den künstlerischen Ursprünglich-
keitswert eines im Laufe der Zeiten mannig-
fach veränderten Baudenkmales zurückge-
winnen.
Gerade bei dem eventuellen Zugeständnisse
der Notwendigkeit zurückzugewinnender Stilrein-
heit und Stileinheit kämen die konsequen-
testen Puristen wiederholt in die größte
Verlegenheit, wofür sie sich eigentlich ent-
scheiden sollten. Denn sehr viele Gotteshäuser,
die in romanischer oder Übergangszeit begonnen und
während der gotichen Epoche vollendet, beziehungs-
weise in letzterer vom Grund aus errichtet wurden,
aber alle Entwicklungsphasen der Gotik an ihrem
Baukörper höchst instruktiv verfolgen lassen, haben
durch Beigaben nichtmittelalterlicher Stile verschie-
dene Veränderungen erfahren. Sollen nun diese allein
dem Fanatismus der Stileinheit und Stilreinheit zum
Opfer fallen und hat derselbe vor den Unterschieden
des Früh-, Hoch- und Spätromanischen und den nicht
minder augenfälligen Verschiedenheiten früh-, hocli-
und spätgotischer Ausdrucksmittel Halt zu machen?
Denn die Stil ein heit und Stilreinheit kann nur
eine sein, wie schon das Wort sagt. Verlangt man
bei Regotisierung mittelalterlicher Kirchen die Be-
seitigung von Renaissance- und Barockzutaten, dann
wird die Zurückversetzung einer in romanischer Zeit
begonnenen, in gotischer Zeit vollendeten oder durch
gotische Zubauten erweiterten Kirche die wirkliche