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I. Name und Begriff des Klassizismus

sischer Betätigung in den Aufgaben finden werden, die Gerichts- und Markt-
hallen, Theater, Bäder und Triumphbogen zum Vorwurf gaben. —

Und wieder vergehen Jahrzehnte und Jahrhunderte.

Und wieder stellen die einzelnen Kulturepochen in den verschiedenen Län-
dern Europas ihre Aufgaben an den Architekten. Die christliche Kirche mit ihrem
zuerst bischöflich stolzen, dann mehr und mehr völkischen Ritus gibt ganz neue
Aufgaben, die Wölbtechnik neue, entsprechende Mittel zu ihrer Erfüllung. In den
Kathedralen Frankreichs und in den Domen Deutschlands sehen wir klassische
Lösungen im neuen Kultgedanken. Der christliche Glaube war gleichsam der
Form der Gotik vermählt. Nur in ihr konnte er in seiner ganzen mystischen
Eigenart zum Ausdruck gelangen — und nur sie, die Gotik, vermochte unter
seiner Herrschaft zu gedeihen. Sobald dem Gedanken die Innerlichkeit erstarb,
sank auch die klassische Eigentümlichkeit der Gotik. Und als Italien und Frank-
reich den Humanismus und Rationalismus, der Norden die Reformation brachten,
als beide innere Bewegungen ihren Ausdruck in der Renaissance erhielten, da
wurde die Aufgabe des gotischen Kirchenbaues vom Programm abgesetzt und
neue, weltlich bedeutende traten an ihre Stelle. 1)

Der Palast, dieVilla und die weltliche Macht- und Prachtkirche verlangten
nach neuen, ihnen entsprechenden Formen. Und deshalb wurden Palladio und
Sansovino, Bramante und Michelangelo Klassiker der Renaissance, weil sie den
klassischen Ausdruck für jene Kulturgedanken gefunden haben. In Frankreich
dürfen wir Pierre Lescot, Ducerceau und Francois Mansart als Klassiker der
Renaissance bezeichnen, weil sie verstanden haben, die der Zeit Franz’ I. eigen-
tümliche Kulturfarbe zu erkennen und ihr in den Schlössern und Rathäusern den
entsprechenden Kulturausdruck zu verleihen, der ihr von jener Zeit an bis an die
Schwelle der Revolution und darüber hinaus im wesentlichen verblieh.

Der Übergang aus der Renaissance eines Francois Mansart zum Rokoko
eines Hardouin Mansart kann wohl als eine Beugung der Renaissance angesehen
werden, denn im Grunde ist Frankreich nie in den Fluß des italienischen Barocco
geraten. Für clas Wesen des Klassizismus ist diese Beugung aber ungemein
wichtig. Im Rokoko-Schiößchen, in der sog. „Maison de Plaisance“ liegt nämlich
der erste Ansatz zu jener Kulturaufgabe, die in ihrer ganzen Schwere kaum
hundert Jahre später von der Hand der Revolution gestellt wurde. Es liegt darin
der Ansatz zur Schaffung des Btirgerhauses. Der dritte Stand, clie Indivi-
dualität der Masse, begann, schon zurzeit cles Rokoko, zunächst in Schrift und
Wort, dann aber in der Kunst des Bauens nach Ausdruck zu suchen. Und er
fand ihn. Fand ihn eben im Bürgerhause, aber auch im Theater und in den
sonstigen öffentlichen Gebäuden und Anlagen, die die beredtesten Zeugen des
Gemeinsinnes sind. Diese Charaktereigenschaft der Aufgabe stellt sie so ganz
in Gegensatz zu den Kulturaufgaben der Renaissance, die durch den Fürsten dem
Volke vermittelt wurden — sie macht sie damit aber auch verwandt mit jenen
Aufgaben, welche die Antike (Hellas und Rom) sich in Tempeln, Markt- und Ge-
richtshallen gestellt hatte.

Wir werden sehen, inwiefern die Lösungen solcher Aufgahen als klassisch
bezeichnet werden können. Wohl wird es in dem einen oder andern Lande an

Ü Vgl. Johu Ruskin: Steine vou Venedig: „Unter des Dogen Foscari Regierung
(1423) erscheinen in der Baukunst die ersten auffallenden Merkmale einer mächtigen Ver-
änderung, der London St. Pauls verdankt, Rom St. Peter und Venedig und Vicenza jene
Gehäude, welche gewöhnlich fiir ihre edelsten gehalten werden — und das übrige Europa
die Herabwiirdigung jeder seitber von ihm ausgeübten Kunst.“

Ruskins Fehler liegt m. E. in der Verkennung der Beweglichkeit der Kultur und
der Vielseitigkeit ihrer Aufgaben.
 
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