Verheiratete mit Blutsverwandten ersten Grades
gleichgesetzt wurden, galt auch die Verschwäge-
rung als Ehehindernis. Mithilfe der Arbores-Dar-
stellungen sollten also Ehehindernisse durch zu
enge Verwandtschaft leicht erkannt werden. Schon
Kaiser Justinian hatte in die „Institutionen" von 534
Stammbäume einfügen lassen, mit einer Begrün-
dung, die das Mittelalter zumeist gern teilte: Der
menschliche Geist lerne nämlich über das Auge
mehr als durch das Ohr, also durch das Wort.
Der rechte der beiden Stammbäume, die moti-
visch und stilistisch eher an eine oberitalienische
Herkunft als an eine aus Heiligenkreuz denken las-
sen, ist die „Arbor consanguinitatis", die von einer
Haltefigur präsentiert wird. In dieser Figur wird
entweder der Stammvater Adam gesehen oder aber
- zumal, wenn sie eine Krone trägt (vgl. Abb.69) -
Kaiser Justinian. Im Zentrum des Schemas stehen
zwei einander zugewandte Köpfe, der eines Man-
nes und der einer Frau, die durch die flankierenden
Medaillons als „frater" und „soror" oder aber durch
das Medaillon darüber als „pater" und „mater" und
somit jeweils als Blutsverwandte ersten Grades ge-
kennzeichnet sind. Dem gegenüber steht links das
Schema der „Arbor affinitatis" unter einem Arka-
denbogen. Darunter und über dem eigentlichen
Schema sitzt ein Paar wie auf einem Balkon hinter
einer Balustrade. Der Mann und die Frau sind ei-
nander zugewandt und halten mit überkreuzten
Armen jeweils das Seil, an dem eine Stange mit dem
Schema hängt. Sie sind als „primum genus" be-
zeichnet und stellen vermutlicli das Brautpaar dar,
das durch die Heirat nun mit den Verwandten auf
der Seite des Gatten verbunden wird. An der sche-
matischen Darstellung in Reihen erkennbar, wer-
den sieben Verwandschafts- und Verschwägerungs-
grade als Ehehindernis definiert. Erst die Arbores-
darstellungen, die nach 1215 entstanden sind,
beschränken sich auf vier Grade, die vom vierten
Laterankonzil in diesem Jahr festgelegt wurden
(vgl. Abb.69).
4. Der neue Kosmos
der gotischen Buchmalerei
Die Gotik ist zwar eine künstlerische Stilrichtung,
doch deren Entstehung und Verbreitung wurde
nicht unerheblich durch den kulturellen und sozia-
len Wandel gefördert. Gerade für die gotische
Buchkunst sind diese Faktoren besonders wichtig,
weil sie den Kreis der Buchbesitzer erheblich er-
weiterten und in vielerlei Hinsicht neue Bedingun-
gen der Buchherstellung schufen. Zu den einfluss-
reichsten Veränderungen, die sich zum Ende des
12.Jahrhunderts durchgesetzt hatten, gehörten die
Erneuerung des römischen Rechts und die Wieder-
entdeckung der aristotelischen Wissenschaften.
Diese neue, die scholastische Wissenschaft förder-
te das Interesse an den Einzelphänomenen bis hin
zu den optischen Gesetzen, was in der gotischen
Malerei mit der Auseinandersetzung mit Natur-
phänomenen sowie Körper und Raum auffällige
Parallelen findet. Zeitgleich waren auch die ersten
Universitäten entstanden und insbesondere Paris
und Bologna zogen Studenten in großen Scharen
an, die dort nicht nur die reformierten Wissen-
schaften kennenlernten, sondern auch Bücher
kauften und Lehrer und Studenten aus den übrigen
Ländern Europas trafen. Da auch die Angehörigen
der Orden, nicht zuletzt die Franziskaner zum
Studium nacli Paris kamen, besaß man nun in
ziemlich jeder Adelsresidenz und jeder Ordensnie-
derlassung einen kleinen Einblick in die intellektu-
elle und oft sogar künstlerische Entwicklung in
Paris.
Im 12.Jahrhundert hatte in Frankreich und
Deutschland der Aufstieg sowohl der Städte als
auch der künftig dominierenden Mächte begonnen.
Anders als der französischen Monarchie war es den
einst viel mächtigeren deutschen Königen und Kai-
sern nicht gelungen, eine dominierende Zentralge-
walt für ihr Reich zu schaffen. Stattdessen waren
die Regionalherrschaften, unter ihnen die Land-
grafschaft Thüringen, und die vom Adel dominier-
ten Bistümer selbstständiger und mächtiger gewor-
den. Auch dies veränderte und förderte die
Buchkunst, denn die großen Adelshöfe begannen
nun, das traditionelle Mäzenatentum der Königs-
höfe zu kopieren und zu überbieten. Landgraf Her-
mannl. (reg. 1190-1217) war einer der größten
Förderer der weltlichen deutschsprachigen Litera-
tur. Obendrein haben die Adelshöfe die neuen Bet-
tel- und Ritterorden nicht nur gefördert, sondern
die von der Nachahmung Christi geprägte Spiritua-
lität der Zeit selbst aufgenommen. Zwar sind so ra-
dikale religiöse Lebenswege wie jener der heiligen
Elisabeth, der Schwiegertochter Hermanns, Aus-
nahmen geblieben, weithin ergänzten nun jedoch
neue asketische und karitative Frömmigkeitsfor-
men den traditionellen Gebetsdienst.
Schließlich war die Epoche der entstehenden
Gotil< auch die Zeit einer zunehmenden techni-
schen Rationalisierung und der Erfindung neuer
TTT Buchkunst
1 11 . im Spiegel
der Zeiten
96
gleichgesetzt wurden, galt auch die Verschwäge-
rung als Ehehindernis. Mithilfe der Arbores-Dar-
stellungen sollten also Ehehindernisse durch zu
enge Verwandtschaft leicht erkannt werden. Schon
Kaiser Justinian hatte in die „Institutionen" von 534
Stammbäume einfügen lassen, mit einer Begrün-
dung, die das Mittelalter zumeist gern teilte: Der
menschliche Geist lerne nämlich über das Auge
mehr als durch das Ohr, also durch das Wort.
Der rechte der beiden Stammbäume, die moti-
visch und stilistisch eher an eine oberitalienische
Herkunft als an eine aus Heiligenkreuz denken las-
sen, ist die „Arbor consanguinitatis", die von einer
Haltefigur präsentiert wird. In dieser Figur wird
entweder der Stammvater Adam gesehen oder aber
- zumal, wenn sie eine Krone trägt (vgl. Abb.69) -
Kaiser Justinian. Im Zentrum des Schemas stehen
zwei einander zugewandte Köpfe, der eines Man-
nes und der einer Frau, die durch die flankierenden
Medaillons als „frater" und „soror" oder aber durch
das Medaillon darüber als „pater" und „mater" und
somit jeweils als Blutsverwandte ersten Grades ge-
kennzeichnet sind. Dem gegenüber steht links das
Schema der „Arbor affinitatis" unter einem Arka-
denbogen. Darunter und über dem eigentlichen
Schema sitzt ein Paar wie auf einem Balkon hinter
einer Balustrade. Der Mann und die Frau sind ei-
nander zugewandt und halten mit überkreuzten
Armen jeweils das Seil, an dem eine Stange mit dem
Schema hängt. Sie sind als „primum genus" be-
zeichnet und stellen vermutlicli das Brautpaar dar,
das durch die Heirat nun mit den Verwandten auf
der Seite des Gatten verbunden wird. An der sche-
matischen Darstellung in Reihen erkennbar, wer-
den sieben Verwandschafts- und Verschwägerungs-
grade als Ehehindernis definiert. Erst die Arbores-
darstellungen, die nach 1215 entstanden sind,
beschränken sich auf vier Grade, die vom vierten
Laterankonzil in diesem Jahr festgelegt wurden
(vgl. Abb.69).
4. Der neue Kosmos
der gotischen Buchmalerei
Die Gotik ist zwar eine künstlerische Stilrichtung,
doch deren Entstehung und Verbreitung wurde
nicht unerheblich durch den kulturellen und sozia-
len Wandel gefördert. Gerade für die gotische
Buchkunst sind diese Faktoren besonders wichtig,
weil sie den Kreis der Buchbesitzer erheblich er-
weiterten und in vielerlei Hinsicht neue Bedingun-
gen der Buchherstellung schufen. Zu den einfluss-
reichsten Veränderungen, die sich zum Ende des
12.Jahrhunderts durchgesetzt hatten, gehörten die
Erneuerung des römischen Rechts und die Wieder-
entdeckung der aristotelischen Wissenschaften.
Diese neue, die scholastische Wissenschaft förder-
te das Interesse an den Einzelphänomenen bis hin
zu den optischen Gesetzen, was in der gotischen
Malerei mit der Auseinandersetzung mit Natur-
phänomenen sowie Körper und Raum auffällige
Parallelen findet. Zeitgleich waren auch die ersten
Universitäten entstanden und insbesondere Paris
und Bologna zogen Studenten in großen Scharen
an, die dort nicht nur die reformierten Wissen-
schaften kennenlernten, sondern auch Bücher
kauften und Lehrer und Studenten aus den übrigen
Ländern Europas trafen. Da auch die Angehörigen
der Orden, nicht zuletzt die Franziskaner zum
Studium nacli Paris kamen, besaß man nun in
ziemlich jeder Adelsresidenz und jeder Ordensnie-
derlassung einen kleinen Einblick in die intellektu-
elle und oft sogar künstlerische Entwicklung in
Paris.
Im 12.Jahrhundert hatte in Frankreich und
Deutschland der Aufstieg sowohl der Städte als
auch der künftig dominierenden Mächte begonnen.
Anders als der französischen Monarchie war es den
einst viel mächtigeren deutschen Königen und Kai-
sern nicht gelungen, eine dominierende Zentralge-
walt für ihr Reich zu schaffen. Stattdessen waren
die Regionalherrschaften, unter ihnen die Land-
grafschaft Thüringen, und die vom Adel dominier-
ten Bistümer selbstständiger und mächtiger gewor-
den. Auch dies veränderte und förderte die
Buchkunst, denn die großen Adelshöfe begannen
nun, das traditionelle Mäzenatentum der Königs-
höfe zu kopieren und zu überbieten. Landgraf Her-
mannl. (reg. 1190-1217) war einer der größten
Förderer der weltlichen deutschsprachigen Litera-
tur. Obendrein haben die Adelshöfe die neuen Bet-
tel- und Ritterorden nicht nur gefördert, sondern
die von der Nachahmung Christi geprägte Spiritua-
lität der Zeit selbst aufgenommen. Zwar sind so ra-
dikale religiöse Lebenswege wie jener der heiligen
Elisabeth, der Schwiegertochter Hermanns, Aus-
nahmen geblieben, weithin ergänzten nun jedoch
neue asketische und karitative Frömmigkeitsfor-
men den traditionellen Gebetsdienst.
Schließlich war die Epoche der entstehenden
Gotil< auch die Zeit einer zunehmenden techni-
schen Rationalisierung und der Erfindung neuer
TTT Buchkunst
1 11 . im Spiegel
der Zeiten
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