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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 10.1899

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Leisching, Julius: Die Entwicklung der Möbelformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.4879#0169
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DIE ENTWICKLUNG DER MÖBELFORMEN

gefässe aus geflochtenen Formen, an die noch lange
Zeit wenigstens ihr Ornament erinnerte, und auch
unser Wort „Wand" gemahnt noch immer an die
geflochtenen Wände der Pfahlbauten. Sprachforscher,
die den veränderten Sinn unseres Wortschatzes auf
seinen ursprünglichen Begriff hin untersuchten, offen-
baren uns nun, dass Tisch wohl von discus stammt
und begründen dies damit, dass derselbe zur Zeit, da
man sich seiner noch liegend und hockend bediente,
vermutlich aus einer runden Scheibe auf ganz niedrigen
Füssen bestand. Solche Tische finden sich thatsäch-
lich bis zum heutigen Tage in bosnischen Bauern-
häusern. Ein ihnen entsprechender Holzstuhl mit
ebenfalls ganz kurzen Füssen, auf Caicos Island ge-
funden und jetzt in der Sammlung der Smithsonian
Institution zu Washington aufbewahrt, erinnert an die
niedrigen, langen Stühle der Neger.

So lebt das Alte fort, wenigstens dort, wo es wie
in Bosnien verwandten Lebensgewohnheiten entspricht.
Daraus entspringt schon die erste Erkenntnis, dass
unser täglich benutzter Hausrat vor allem unserem
Bedürfnis entsprechen und genügen muss. Warum
hat eine wohlerhaltene Bauernstube soviel Anheimeln-
des selbst für das verwöhnteste Auge? — Weil hier
jedes Stück seinen Zweck hat und am rechten Platze
steht und zu seiner Aufgabe taugt. Aus dem Be-
dürfnis entstehen die Formen, aus ihm heraus hat
auch der Künstler zu schöpfen und zu schaffen.

Der Mensch blieb am Boden nicht haften. So-
lange auch die Sitte dauerte, selbst am Tage zu liegen
statt zu sitzen, so beweisen doch schon die ältesten
historisch nachweisbaren Möbelformen, die des vorptole-
mäischen Ägypten, welche uns in den Wandgemälden
und Beigaben der Gräber erhalten blieben, dass die
Lebensweise und mit ihr der Hausrat eine bedeutsame
Wandlung durchgemacht hatten.

Mit Staunen sehen wir, dass die Sitzmöbel, welche
Prisse d'Avennes aus der Nekropole von Theben
(18.—20. Dynastie) abbildet, mit ihren schlanken,
hohen, zum Teil tierfüssigen Beinen bereits die typische
Form gefunden haben, die für alle folgenden Jahr-
tausende mustergültig bleiben sollte. Da stehen
mächtige Lehnstühle vor uns; ihre rückwärtigen
Stützen sind beträchtlich verlängert, um die Rücken-
lehne zu bilden. Daran legt sich aber vom Sitz auf-
steigend ein geschwungenes, dem menschlichen Rücken
sich anschmiegendes Brett, das überdies samt dem
eigentlichen Sitz mit einem schwellenden Polster be-
deckt die Behaglichkeit des Sitzens bedeutend ver-
mehrt. Selbst die gelinde Aushöhlung des Sitzbrettes,
die neuerdings an amerikanischen Möbeln mit Recht
so sehr gelobt wird, ist den Ägyptern nicht fremd
gewesen. Desgleichen kannten sie den Faltstuhl, und
zwar vielleicht nicht nur in Bronze, sondern auch in
Holz. Ein Beispiel aus dem Mobiliar Ramses III.

zeigt ihn sogar mit einer der eben beschriebenen
Lehnen versehen. Aus dem Faltstuhl des noma-
disierenden Kriegers ist der Fauteuil des Herrschers
geworden, eine Form- und Sprachwandlung, die sich
bekanntlich sehr viel später auf französischem Boden
wiederholte. Gelegentlich bilden Adler mit mächtig
ausgreifenden Flügeln die Rücklehne, schreitende
Löwen oder Sphinxe die Armlehnen, indes gefesselte
Menschengestalten in den tragenden Teil zwischen die
Stuhlbeine verbannt werden als Stützen der Last. Diese
billige Symbolik findet sich nicht minder häufig in
den assyrischen Alabasterreliefs, wo der Herrscher-
thron von übereinander stehenden Männern mit er-
hobenen Armen getragen erscheint.

So niedrig, fast dem Boden gleich der Sitz der
Menschen in Urzeiten gewesen ist, so hoch war er
in der asiatischen Antike, ja bis hinein ins Mittelalter
Europas. Der Schemel, der infolgedessen für die
Füsse nötig wurde, findet sich nicht bloss in den
ägyptischen Wandbildern. Er blieb ein unerlässlicher
Bestandteil von Stuhl, Bett und Bank wie Tisch, wenn
er späterhin auch oft nur aus einem einfachen un-
beweglichen Brett besteht.

Noch bedeutsamer vielleicht als die grundlegende
Formenbildung und ihr dekorativer Zierat, wie wir
sie derart lange vor unserer Zeitrechnung in Afrika
festbegründet sehen, ist die Thatsache, dass den
Ägyptern die wichtigsten Holzverbindungen, deren
wir uns heute noch bedienen, schon vollkommen ge-
läufig waren, angefangen vom einfachen Zusammen-
pflöcken bis zum Verzinken der Bretter und der
Konstruktion des Rahmenwerks. Ihre Möbel sind
deshalb besonders lehrreich für uns, weil sie am
Tektonischen haften blieben und nie darüber hinaus
kamen. Gerade darin liegt aber auch die Ursache,
warum manche der »modernsten'' Möbel lebhaft an
ägyptische Vorbilder erinnern. Wie letztere auch im
Ornament aus der Konstruktion herausgewachsen sind,
so sehnen auch wir uns nach allem Überschwall des
Zierats zum Urquell der Natur .zurück. Hier kann
uns nur das Verständnis für die Konstruktion, für das
Tektonische auf die rechten Bahnen lenken — das ist
die zweite Erkenntnis für die Entwicklung der Möbel-
formen, welche die Geschichte uns lehrt, wenn wir
die Zukunft erforschen wollen. Es ist naheliegend,
dass der Empirestil die Brücke bildete bei jener
Verwandtschaft zwischen den ältesten und jüngsten
Möbeln.

Doch nicht Ägypten, sondern die Griechen waren
es, welche das konstruktive Prinzip auf die höchste
Stufe hoben, indem sie die Drechslerscheibe einführten.
Semper hat bereits darauf hingewiesen, dass diese im
Möbelstil dieselbe Umwälzung hervorgerufen hat wie die
Töpferscheibe in der Keramik, durchweiche „der reinen
Form über den älteren dekorativ-plastischen Flächen-
 
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