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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 10.1899

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Braun, Edmund Wilhelm: Jean Carriès
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https://doi.org/10.11588/diglit.4879#0230
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JEAN CARRIES

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feurigen, nur eigenem Willen folgenden und eigene
Wege suchenden Geist war der Schulzwang unerträg-
lich. So musste er alles allein erlernen, vor allem die
Formensprache.

In einem finstern Zimmer begann er allein, nach
den billigsten Modellen die lange Reihe seiner Köpfe
der „Desoles" und „Desherites". Daneben sah und
lernte er im Louvre und begeisterte sich an den
Skulpturen von Notre-Dame. An Stelle der unbezahl-
baren Modelle stu-
dierte er Naturab-
güsse, und wie stu-
dierte er sie! Mit
besonderem Eifer,
mit scharfem, ver-
gleichendem Auge
und dem tastenden
Finger, bis alles vor
ihm stand, lebend,

sich bewegend.
Doch ausser dieser
Erlernung der For-
menorthographie
wollte er viel mehr.
Sein künstlerischer

Drang verlangte
nach demAusdrucke
des stärksten, intim-
sten Lebens. Den
feuchten Glanz der
Lippen, den zarten
Flaum der Haut,
das Leuchten, die
Farbe des Auges,

das unmerkliche
nervöse Zittern der
Nasenflügel: alles
dies suchte er zu
erfassen und wie-
derzugeben. Wie
viel Neues, Persön-
liches lag in diesem
jungen Künstler!
Zuerst gelang es

ihm bei einem Selbstporträt, aber auch die anderen
seiner ersten Köpfe überraschten und fesselten durch
die Naturtreue und Stärke des Ausdrucks. Und
dieses Neue hatte dem Künstler wie einst Rodin die
Verdächtigung von Seiten der Philister zugezogen, es
seien Naturabgüsse. Denn das Persönliche, der Stil,
das specifisch Artistische, welches das Kunstwerk
für ewig vom Abguss trennt, das vermochten die
blöden Augen jener Herren nicht zu erkennen. Tout
comme chez nous!

Bei einem Aufenthalt in Lyon 1876 modellierte

Ludwig IX. als Kind. Von J. CARRiiis. Dresden, Albertinum.

er die ergreifend schöne Büste seiner sterbenden
Schwester, einer Novize. Dann sollte er dort nach
der Photographie und der Totenmaske des in Rom
von seinem Modell ermordeten Malers Allard eine
Büste herstellen. Diese Arbeit fesselte ihn ausser-
ordentlich, besonders die Totenmaske übte einen
ausserordentlichen Eindruck auf ihn aus, wie er sich
auch in der Stimmung späterer Werke noch nieder-
schlug. Neben der wehmütigen Büste Allard's model-
lierte er im gehei-
men denselben
Kopf,abermiteinem
Schleier bedeckt, ein
ergreifendes Werk.
In seinem klei-
nen Atelier bei Frau
Allard träumte er
damals stolze ein-
same Träume, er
wollte mehr als Mi-
chelangelo werden,
rief er einst aus, er
wollte ein „Velas-
quez en sculpture«
werden. Velasquez
hatte ihn tief ergrif-
fen und begeistert,
das Verwandte in
ihm zog ihn an, und

seine Velasquez-
büste, die er später
schuf, ist ein Meis-
terstück prachtvoller
und eindringlicher
Charakteristik.

Die Mere Cal-
lamand wusste den
feinsinnigen kunst-
verständigen Oberst
Graf Miquel de Riu
für Carries zu in-
teressieren, und als
er in dessen Regi-
ment ausgehoben
wurde, gewährte man ihm die denkbar grösste
Freiheit. Er durfte sich als Soldat ein Atelier mieten
und entwickelte sich frei und selbständig weiter,
von unerschütterlichem Selbstvertrauen gehoben. Eine
Reihe bedeutender Schöpfungen entstand, darunter
das intime einfache Reliefporträt des Oberst und eines
Offiziers. Damals machte er auch die ersten voll-
kommen selbständigen Versuche in Terrakotta, die
später so Herrliches zeitigen sollten, aber ohne An-
leitung wie er war, erlebte er viele Enttäuschungen,
denn gross sind „les angoisses et les deceptions du

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