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Kunstgewerbeblatt: Vereinsorgan der Kunstgewerbevereine Berlin, Dresden, Düsseldorf, Elberfeld, Frankfurt a. M., Hamburg, Hannover, Karlsruhe I. B., Königsberg i. Preussen, Leipzig, Magdeburg, Pforzheim und Stuttgart — NF 10.1899

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Braun, Edmund Wilhelm: Jean Carriès
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https://doi.org/10.11588/diglit.4879#0232
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JEAN CARRIES

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damals nicht beschäftigt, aber bei seiner feinen Be-
obachtungsgabe nahm er sicher eine Reihe von Ein-
drücken in sich auf, die latent mit früheren in seinem
künstlerischen Unterbewusstsein ruhten, um später mit
der ihm eigenen herrlichen ungestümen impulsiven,
aber auch anhaltenden
Macht hervorzubrechen
und sich in einer Reihe
von Meisterwerken zu
krystallisieren. Es war eine
glückliche Zeit für ihn
und glücklich wirkte sie
auf ihn ein. Zwei wunder-
volle Büsten und ein rei-
zendes Kindermedaillon
entstanden.

Es beginnt die Zeit
des reifsten, aber auch
produktivsten Schaffens.
Wie Rafael schuf er Vieles
und Grosses, als ob er
den frühen Tod ahnte. Er
hat zu rasch gelebt, er
hat sich verzehrt im hei-
ligen ewig flammenden
Opferfeuer seiner Kunst,
für die er jede Sekunde
lebte und schuf. Er wurde
der grosse Impressionist,
aber ein Impressionist, in
dem dank der wunder-
baren Richtung seiner Na-
tur einer jeweiligen Im-
pression eine lange Reihe
früherer verwandter sich
gesellen, die aus der Tiefe
emporsteigend, zu den
herrlichsten Werken sich
umbildeten. Denn wo er
ging und war, beobach-
tete, schuf und bildete er
mit Geist, Phantasie und
Hand. Er arbeitete mit
seiner wundervollenHand,
welche die primitivsten
Werkzeuge führte, ernst
und versunken wie im
Gottesdienst, glückselig in
der Freude des Schaffens,

Grand Portrait de Carries; Cire vierge.

alle Nerven gespannt. Es war sein Leben ein herr-
liches tiefes Kunstleben voll Schmerz und Entzücken,
dahinrauschend wie eine Beethovensymphonie. Die,
denen er gestattet, bei seiner Arbeit zuzusehen,
sprachen von einer wundervollen ergreifenden Offen-
barung tiefsten Künstlertunis.

Kunstgewerbeblatt. N. F. X. H. 12.

Eine adlige Vornehmheit liegt in seinen Werken,
die allenthalben durchschimmert wie das rote Blut
durch die zarten Finger einer schönen Frauenhand.
Es entstand damals der »Bischof", dieser feine greise
Asketenkopf voll wunderbaren Lebens und weltab-
gelegener Lebensmüdig-
keit; wie schmerzliche
Enttäuschung und milde
Vergebung schwebt es
über den durchgrabenen
Zügen, um den müden, zu-
sammengepressten Mund.
Und der „Courbet", die
machtvolle Wiedergabe
jenes kraftgenialen Malers,
die wie seine Bilder da-
zugehört, um sein Wesen
ganz zu erfassen.

Interessant war es,
wie er schuf. Aus alten
und neuen Eindrücken,
aus sanften und wilden
Träumen entstand in sei-
ner schönheitsdurstigen
Phantasie ein Werk, das
er hundertfach durch-
arbeitete. Von allen Seiten
ging er heran, fieberhaft
erregt, leidend im ver-
zehrenden Schaffen. So
hauchte er dem Werke
seinen Geist ein, diesen
hoheitsvollen, unruhigen,
glühenden Künstlergeist.
Alles war neu und voll-
ständig an ihm, auch seine
Formensprache.

Er bemalte seine
Gipsabgüsse in wunder-
voller Weise, die Wangen
und Lippen tönte er rot,
und auf dem zarten Weiss
der Frauenhaut spielten
rosa- und violettfarbene
Lichter. Und über allem
ein matter Glanz wie von
Atlas. Für den Bronze-
guss liebte er die verlo-
rene Wachsform, die er
in sorgfältigster, alle Feinheiten heraushebenden Weise
überarbeitete. Bingen war sein Lehrer gewesen, und
mit der ihm eigenen impetuosen Kraft hatte er bald
den Meister erreicht. Seine Güsse sind von einer
Grösse und Wahrhaftigkeit, sie stehen in unvergleich-
lichem Gegensatz zu dem typischen Guss. Ich er-

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