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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 12,2.1899

DOI issue:
Heft 17 (1. Juniheft 1899)
DOI article:
Avenarius, Ferdinand: Vom Nackten in der bildenden Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7958#0147

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wann ein erlahmender stecken gleichsam auf diesem Weg: üildet seine
Phantasie nicht energisch genug um, oder dauert ihre Erregung während
der Arbeit nicht aus, so sehen wir schließlich vielleicht statt einer Gottheit
ein Modell. Lüstern aber wirkt auch das auf den für Kunst Empfänglichen
noch nicht, dazu gehörte, daß der Gegenstand nur zum gleichsam alle-
gorischen Vorwand sür lüsterne Absichten genommen wäre. Wirkliche
Kunst kann selbst sinnliche Lüsternheit mit körperlicher Nacktheit behandeln,
ohne selbst lüstern zu werden, wenn sie es sachlich als Stoff, sei es im
Humor, sei es in der Tragik des Dämonischen gestaltet. Jch erinnere
nur an Böcklins lachendes „Spiel der Wellen" und an ein grausig-großes
Blatt in Klingers Zyklus „Ein Leben^.

Wer nun, und wär' es nur teilweise, dem beistimmt, was wir vorhin
über das Nackte sagten, wird selbstverständlich finden, daß ferner auch
Kunst keusch und edel sein kann, die das Nackte nicht zum Ausdruck von
Stimmungen, die es nur um seiner selbst willen darstellt. Was für
arme Leute sind wir doch, wenn wir Gottes Ebenbild nicht anzusehen
wagen aus Furcht vor dem Tiere in uns! Tausende von Kräften spielen
hunderttausendfach in diesem wundervollen Mikrokosmos der Formen und
Farben, und wir sehen von ihnen allen nur den einen Trieb? Und
ihn, der unser Geschlecht fortpflanzt durch die Aeonen, ihn erniedrigen
wir zu etwas Häßlichem?

Eines gibt beim Abwägen der ganzen Frage zwar nicht den
Ausschlag, muß aber doch immer bewußt bleiben: wo ein wirkliches
Kunstwerk, das Nacktes zeigt, „anstößt", liegt das immer am Beschauer.
Zunächst: dem Unreinen wird alles unrein: dessen seelisches Auge ver-
derbt ist, der sucht Schmutz, und er findet ihn überall, weil er ihn
überall hineinträgt — wir können ihm gar nicht helfen. Aber
dann: nicht jeder, den Nacktes verletzt, gehört zu den Schmutzigen,
auch der im Kunstgenießen Ungeübte kann von reinempfundenen Dar-
stellungen des Nackten verletzt werden. Kunstempfänglichkeit heißt: Fähig-
keit dcs aufnehmenden Organismus, dem Künstler genau in der Richtung
zu folgen, in welcher er selber geht. Kann man das nicht, so irrt man
natürlich beim Nackten besondcrs leicht auf häßliche Nebenwege.

Eben dieser reinen und, sagen wir: nicht kunstfesten Menschen
wegen ist die ganze Sache schwieriger, als ein „Kunstmensch" leichten
Herzens zugeben mag, ja: nur deswegen überhaupt liegt hier eine
Frage vor. Dort sitzt das Dilemma: beschränken wir der künstlerischen
Darstellung des Nackten nicht im mindesten die Oeffentlichkeit, so setzen
wir diese Klaffe von Leuten in der That möglicherweise Schädigungen
aus. Und der Ernst der Frage wächst dadurch gewaltig, daß zu den
also Gefährdeten in erster Reihe die Jugend gehört.

Trotz alledem können wir uns von Plänen, wie dem Lex-Heintze-
Entwurf, auch in dieser Beziehung nichts versprechen. Und wenn sie
so strenge gestaltet würden, wie nur möglich, „faßbar" sür sie könnte
immer nur das Nackte sein, das „pikanteste" Hemde oder doch Röckchen
darüber müßte ihr genügen, — den unsaubern Geist, der aus den
Bildern der Blaas, Eckwall L Co. lockt, den können sie nicht arretieren.
Und mit dem Nackten wird es gehen, wie's immer in solchen Fällen
geht: an jc kleinere Portionen man gewühnt, je kleinere werden für die

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