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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 2
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Lichtwark, Alfred: Die Geschichte der Bildnismalerei
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0032

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im Gegenteil bildet das Bildnis die Synthese seiner
Existenz.

Aber man sühlt noch nicht die volle Freiheit,
man sr-eht auf den ersten Blick: das ist einer, der sich
hat yorträtieren lassen. Ganz srei wird das Bildnis
trotz der großartigen Schöpsungen der Nürnberger,
Augsburger, Mailänder und der Florentiner wohl
erst in Venedig.

Ein typisches Beispiel bildet das Selbstporträt
Titians in der Berliner Gallerie. Da sind die. Glie-
der gelöst, wie sich der Mann hält, wie er blickt, wie
die Finger der rechten Hand aus den Tisch trommeln,
das ist ungezwungen, und die höchste Stufe des
Studiums und der Beobachtung, die innerlichste Ver-
tiesung in das Wesen des Dargestellten machen den
Eindruck des völlig „Unbeachteten". Der Geschilderte
ist nicht für den Maler oder den Beschauer hingesetzt,
sondern wie mit sich allein. Titian ist nicht umsonst
der erste große Typus des internationalen Fürsten-
malers, der in Venedig wie ein Großer Hos hält
und mit den Gewaltigen der Welt auf gleichem Fuß
verkehrt.

Aus den Religionskämpfen und den politischen
Wirren, die daraus hervorgingen, war zu Ansang
des siebzehnten Jahrhunderts eine veränderte Situa-
tion in Europa geschaffen. Die neuen Zentren der
künstlerischen Produktion lagen nicht mehr in den süd-
deutschen und italienischen Städten und noch nicht in ,
Paris und London, sondern in den Niederlanden und
in Spanien, die mit einander die großen Kümpse ge-
sührt hatten.

Ein wunderbares Bild bieten die Niederlande.
Der belgische Teil war von den Spaniern behauptet,
hier setzte die katholische Reaktion ein und führte
unter der machtvollen Persönlichkeit eines Rubens zu
einer neuen Blüte der Kunst.

Und nebenan, kaum ein paar Meilen entsernt,
erhob sich sast um dieselbe Zeit die erste ganz moderne
künstlerische Bewegung, die erste im Wortsinn prosane,
das heißt außerhalb der Kirche erwachsene Kunst, die
der Holländer.

Wie in allen anderen Gattungen, drückt sich der
Kontrast auch im Bildnis aus. Bei Rubens und
van Dyck, den reisenden internationalen Hosmalern,
die die Großen ihrer Heimat und ganz Europas
malten, dominiert der Aristokrat mit dem schmalen
Gesicht und den schmalen langen Händen alter Rasse.
Die Stellung ist elegant vornehm, fast herausfordernd
und streist gelegentlich an Pose. Es ist sraglich, ob
die Menschen wirklich alle so gut stehen und sitzen
konnten und ob sie die schönen Hände so absichtlich
zur Schau trugen. Selten gehen die Maler, wie bei
einigen vornehmen Frauenbildnissen und bei den Bild-
nissen befreundeter Künstler, ins Jntime. Aber noblere

Bildnisse sind nicht gemalt worden, und die inter-
nationale Stellung der Meister bedarf keiner Erklärung.

Zur selben Zeit trug Holland eine Bildniskunst
ganz anderer Art. Niemals ist das Bildnis so sehr
ein Lebensbedürsnis weiterer Volkskreise gewesen,
niemals hat es eine ähnliche Fülle von Motiven
entwickelt.

Die Holländer haben zuerst den Kreis der Mög-
lichkeiten umschrieben vom Gruppenbildnis, das Dutzende
von Männern in Lebensgröße vereinte, vom Familien-
bildnis bis zu den kleinen Kabinetstücken von Ter-
burg und den Miniaturen, die als Schmuck getrngen
wurden. Das zweite Haupt der Schule, Frans Hals,
war ausschließlich Bildnismaler, und das umsassende
Genie der Schule, Rembrandt, vertieste auch das
Bildnis, wie in dem wunderbaren „Six am Fenster".
Es ist sehr lehrreich, dieses Werk mit dem Gisze von
Holbein im Berliner Museum zu vergleichen. Six
steht lesend mit dem Rücken gegen die Fensteröffnung
gelehnt, um das letzte Abendlicht auszunutzen, das
über ihn hinwegslutend in den Ecken des vornehmen
Gemachs verdämmert.

Vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts läßt
sich die Charakterentwicklung der Holländer in den
Bildnissen studieren, von der bürgerlichen Gebunden-
heit in Haltung und Zügen durch die leidenschastliche
Männlichkeit der Periode des Freiheitskampfs zu dem
klassischen Gleichgewicht aller Kräste des Gemüts und
des Geistes um die Mitte des siebzehnten Jahrhun-
derts bis zur Versettung der glattrasierten „Erben"
zu Ansang des achtzehnten Jahrhunderts. Pose,
Schönsürberei, verwaschene Jdealisierung kennt der
Holländer nicht, so lange er unbeeinslußt bleibt, da-
für aber eine schlichte Jnnerlichkeit, die heute noch
unmittelbar zum Herzen spricht.

Fast um dieselbe Zeit führte die Blüte des Bild-
nisses unter Velasquez in Spanien unter ganz anderen
äußeren Bedingungen zu ähnlichen Resultaten.

Die spanisch-slandrisch-holländische Epoche der
europäischen Kunst wurde durch die sranzösische unter
Ludwig XIV. abgelöst. Ein neuer Mensch bildete
den Gegenstand einer neuen Kunst.

Der Mensch war nicht der unabhängige Aristo-
krat der Rubenszeit, nicht der Fürst und Grande des
Velasquez, nicht der stolze Bürger des freien Hollanos,
sondern der Hösling, den Ludwig und seine Minister
aus dem französifchen Adel geschaffen hatten, ein
Geschlecht, das nur an der künstlerischen Ausprägung
der Persönlichkeit arbeitete, das wie in goldenen
Käfigen in seinen Gemächern gefangen saß, dessen
Lebenszweck das Wort Auftreten bezeichnet, in Summa
die vornehmste Dekoration des sürstlichen Hofhalts,
und als solche in Tracht und Austreten ganz auf das
Schaugepräge zugeschnitten. Hohe Hacken, wallende



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