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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0311

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Purgierkuren und Blutentziehungen.

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änderung erfährt: „Lsns eur-ut, <gui nsots -xur-Aut"*), d. h. die
Purganzen können großes leisten, wenn sie zur rechten Zeit bei der
rechten Gelegenheit Anwendung finden.

Dagegen sind die Saigneurs**) und Grandsaigneurs der alten
Zeit verschwunden. Einer der vornehmsten zu Anfang des Jahrhun-
derts war Broussais 1838); er sah, weil er die Leichenbefunde
salsch deutete, überall das Gespenst der „Austnosntsi'its" (Magen-
darmentzündung) und bedeckte deshalb den Unterleib der meisten Kranken,
insbesonders der Typhösen, mit Blutegeln. — Ein Grandsaigneur noch
in meiner Studienzeit war ein verdienter Diagnostiker, Bouillaud.
Er bekämpfte die Entzüudungen mit Aderlüssen „Schlag auf Schlag",
beim Gelenkrheumatismus namentlich floß das Blut in Strömen. Er
sand für seine Methode eifrige Schüler in Menge, die meisten in Frank-
reich. — Erst um die Mitte des Jahrhunderts machte die junge Wiener
Schule, Skoda an der Spitze, der Blutvergeudung ein Ende.

Die Heilkunst teilt mit den andern edeln Künsten das Loos, daß
jedem Fortschritt eine Uebertreibung auf dem Fuße folgt, die den
entgegengesetzten Weg der bisher eingehaltenen Richtung einschlägt.
Auf den Vampyrismus kam die noch heute herrschende übertriebene
Blutscheu, die jedoch ihrem Ende entgegenzugehen scheint. Man geizt
mit dem kleinsten Tropfen Blut in lächerlicher Weise. Man hätte
in meiner Jugend weit mehr Grund gehabt, schonend damit umzu-
gehen, denn man nährte sich schlechter und sorgte im ganzen weit weniger
sür die hygienischen Bedinguugen unseres leiblichen Wohlergehens. Am
schlechtesten war für die weibliche Jugend gesorgt; man bannte sie
in das Haus, ließ sie kaum ihre Muskeln durch Turnen, gymnastische
Spiele, Schwimmen, Schlittschuhlaufen u. dgl. üben, nur sehr all-
mählich wurde ihre Erziehung in dieser Hinsicht besser und das Vor-
urteil überwunden: dergleichen Uebungen schickten sich nicht für das
weibliche Geschlecht. Die Bleichsucht war deshalb viel häufiger. Nur
die Ansprüche der Schule an die männliche und weibliche Jugend sind
heute bedenklich hinaufgeschraubt, was zur größeren Vorsicht mit Blut-

*) Gut kuriert, wer richtig purgiert.

Blutzapfer. 8s.i§lisi- — zur Ader lassen.
 
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