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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0467

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Wcitere Erlebnisse in Rastatt.

447

Für diesen Menschen war jeder Badner, ob er Epanletten trug oder
nicht, ein Freischärler. Zuerst forderte ich ihn auf, sich augenblicklich
vor mir zu erheben, widrigenfalls ich meinen Epauletten Achtung ver-
schaffen wnrde. Jetzt erhob er sich und erteilte mir in geziemender Hal-
tung den verlangten Bescheid. Um jede Entweichung zu verhüten, war
strenger Befehl ergangen, daß mit einbrechender Dunkelheit niemand
mehr aus dem Lazarett herausdürfe. Der Kommandant hatte es nicht
für nötig erachtet, den Aerzten Anzeige davon machen zu lassen. Man
behalf sich von jetzt an damit, daß man vor Sonnenuntergang hin-
reichende Mengen Wassers ins Lazarett schaffte.

Ein unglaublicher Befehl erschien an dem Tage, wo ich meinen
Dienst in Rastatt andern Händen übergab. Jch war Mitte Oktober
um Entlassung aus der Armee eingekommen nnd erhielt zu Ende des
Monats zunächst einen Urlaub. Oberarzt Neck war mein Nachfolger
in dem Notlazarett. Wir gingen abends, nachdem ich ihn darin um-
hergeführt, zusammen in ein Speisehaus, wo wir mit zwei badischen
Osfizieren zusammentrafen. Sie erzählten uns von einem eben er-
schienenen Befehle des Kommandanten, wonach sich von nun an in dem
Lazarette niemand mehr an den Fenstern zeigen dürfe, widrigenfalls
die Wache scharf hinein schießen werde. Es seien Verhöhnungen der
Wachtmannschast vorgekommen, dem müsse ein Ende gemacht werden.
Uns Aerzten war keine Mitteilung des Ukas zugegangen, der Kom-
mandant hielt derlei Rücksichten für unnötig. Die Offiziere fragten,
was wir darauf thun würden? Jch hatte mit der Sache nichts mehr
zu schaffen und die Erlaubnis, schon am andern Morgen Rastatt zu
verlassen. Neck, offenbar sehr überrascht und nicht gleich zu ruhiger
Ueberlegung fähig, erklärte mit elegischem Heroismus: „Sterb' ich,
so sterb' ich im Dienste!" Wir zuckten die Achseln und meinten, es
wäre klüger, gegen den Befehl sofort Vorstellungen einzulegen. Neck
schien am andern Morgen diese Unterhaltung vergessen zu haben. Er
mußte die Mandeln eines Kranken untersuchen, setzte ihn des besseren
Lichts halber ans Fenster und schickte sich eben an, ihm die Zunge
mit dem Spatel niederzudrücken, als ihm eine Kugel am Ohr vorbei-
pfiff und in die Zimmerdecke einschlug. Jetzt eilte er zum Komman-
danten und erwirkte Rücknahme des Befehls.
 
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