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ERSTES KAPITEL
DAS ZIEL

ES ist das Ziel jeder wissenschaftlichen Kunstlehre, das Wesen
der Kunst zu ermitteln. Dieses Ziel schliesst drei Aufgaben
in sich: Erstlich durch Vergleichung der verschiedenen Künste
miteinander ihre enge Verwandtschaft, d. h. die Einheit der Kunst
nachzuweisen; zweitens die psychischen Vorgänge des ästhetischen
Genusses und des künstlerischen Schaffens zu analysieren; drittens
auf Grund dieser Analyse die Gesetze des künstlerischen Schaffens
und der Kunstentwickelung festzustellen.
Jede Wissenschaft strebt danach, die einzelnen Thatsachen, die
dem Forscher als empirisches Material gegeben sind, unter all-
gemeine Gesichtspunkte zu bringen und von diesen aus zu ver-
stehen. Solange ein Gesichtspunkt noch nicht so allgemein ist,
dass er alles Einzelne erklärt, hat er nur provisorische Bedeutung.
Im Wesen der wissenschaftlichen Forschung liegt es, dass sie sich
bemüht, zu immer allgemeineren Wahrheiten vorzudringen. Die
Aufgabe, die sie sich stellt, ist stets die Ermittelung eines Prin-
zips, einer Theorie, einer Hypothese, eines Gesetzes oder wie
man es nennen will, dem sich alles Einzelne fügt, aus dem alles
Einzelne abgeleitet und erklärt werden kann. Wer dieses Streben
für unnütz oder unmöglich hält, erklärt damit die Wissenschaft
für bankerott. Denn ein sorgfältiges Zusammentragen von Einzel-
heiten ist keine Wissenschaft.
Es kommt also in der Kunst] ehre nicht darauf an, eine Anzahl
von Eigentümlichkeiten der Kunst zu ermitteln, die alle gleich-
berechtigt nebeneinander stehen, oder ein paar allgemeine Wahr-
heiten zu finden, die auf einige Künste passen, auf andere dagegen
nicht, und daneben vielleicht ein paar andere, mit denen man
wieder die übrigen erklären kann, sondern es kommt darauf an,
das Gemeinsame aller Künste zu ermitteln, d. h. das ausfindig zu
machen, worauf die Einheit sowohl aller Künste als auch der
ganzen historischen Kunstentwickelung beruht. Dieses Eine stellt
dann das Wesen der Kunst dar, d. h. das, was den ästhetischen
 
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