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haben, können wir es wagen, auch den künstlerischen Schöpfungs-
prozess einer Analyse zu unterziehen.
Unser Sprachgebrauch unterscheidet zwei Grade der produk-
tiven künstlerischen Begabung: den niederen, das Talent, und den
höheren, das Genie. Von diesen beiden ist das Genie nichts
spezifisch Künstlerisches. Es ist vielmehr die höchste Potenz des
Menschlichen überhaupt, gewissermassen eine gesteigerte Form
der allgemeinen Bildung. Das Genie steht nicht in einem Gegen-
satz zu der Begabung der meisten gebildeten Menschen, sondern
ist ihre höchste und vollkommenste Erscheinungsform. Jeder
Mensch kann lieben und hassen, fürchten und hoffen, trauern und
fröhlich sein. Aber das Genie kann leidenschaftlicher lieben und
hassen, lebhafter fürchten und hoffen, intensiver trauern und
frohlocken als die anderen. Der geniale Mensch lebt nicht nur
sein beschränktes Ich, sondern die ganze Menschheit. Er fühlt
mit jedem, kann sich in alles hineindenken, hat für das Kleinste
wie für das Grösste Interesse.
Sein eigentlicher Beruf ist dabei unwesentlich. Er kann sowohl
Künstler wie Gelehrter, Staatsmann, Militär, Kaufmann oder Hand-
werker sein. Das Genie steht über dem Beruf. Es ist ganz all-
gemein gesprochen die Fähigkeit, bei allem, was man thut, sagt,
fühlt und denkt, aus sich selbst herauszutreten, die Grenzen seiner
beschränkten Persönlichkeit zu überspringen, in Anderen, in der
Natur, in der Gesamtheit aufzugehen. Das Genie lebt rascher und
energischer als die anderen Menschen. Sein Dasein ist reicher und
mannigfaltiger als das ihre. Was es in der Natur und im Menschen-
leben giebt, fesselt sein Interesse, regt seine Gefühle an. Das An-
genehme und das Unangenehme, das Wichtige und Unwichtige
findet in seiner Seele einen Wiederhall. Fremde Freude berührt es
wie eigene, fremdes Eeid greift ihm wie eigenes ans Herz. Nichts
Menschliches bleibt ihm fremd. Die ganze Natur und die Menschen-
seele liegt vor ihm wie ein offenes Buch.
Dass sich das Genie in der Kunst besonders deutlich offenbart,
beruht darauf, dass der altruistische Zug, das Hineinfühlen in
Andere und Anderes gerade zur Kunst wesentlich dazugehört.
Das Hineinfühlen an sich ist noch nichts Ästhetisches, es ist auch
im Gebiet des Ethischen, Religiösen, Politischen u. s. w. möglich
und nötig. In der Kunst kommt aber dazu noch die Fähigkeit
der Illusion, und diese ist Sache der spezifisch künstlerischen
Begabung, des spezifisch künstlerischen Talentes. Da es nun nicht
 
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