Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
38i
die Aufgabe der Ästhetik sein kann, das Wesen des Allgemein-
menschlichen zu ergründen ■—- eine Aufgabe, die vielmehr dem
Psychologen, dem Ethiker, dem Anthropologen zufällt, sondern da
ihr Ziel auf das Wesen der Kunst gerichtet ist, muss sie eine ge-
naue Analyse des Genies ablehnen. Sie kann das um so eher,
als das Geheimnis des Genies, d. h. die Frage, wie dieses um-
fassende Menschentum in das Individuum hineinkommt, ja doch
stets rätselhaft bleiben wird.
Was ist nun aber künstlerisches Talent? Auch da kann man
wieder verschiedene Stufen unterscheiden. Die niederste ist eine
gewisse natürliche Begabung für die Darstellungsmittel einer be-
stimmten Kunst. Wer eine angeborene Fähigkeit besitzt, die Technik
der Malerei zu erlernen und sich durch Übung eine gewisse Leich-
tigkeit darin angeeignet hat, den nennen wir ein malerisches Talent.
Wer die Fähigkeit hat,. musikalische Kompositionen zu reprodu-
zieren und durch Fleiss und Energie ein Instrument gut zu spielen
gelernt hat, den nennen wir ein musikalisches Talent. Bekanntlich
giebt es viele Menschen, die selbst diese bescheidene Gabe nicht
besitzen, wohl aber diese Künste rezeptiv geniessen können. Der
höchste Grad von Talent ist der, dass ein Mensch, der die Dar-
stellungsmittel einer bestimmten Kunst beherrscht, mit ihnen inner-
halb eines beschränkten Stoffgebietes eine starke Anschauungs- oder
Gefühlsillusion zu erzeugen weiss. Wer z. B. mit den Mitteln der
Malerei eine bestimmte Seite der Natur so nachzuahmen oder dar-
zustellen versteht, dass der Beschauer dadurch den klaren und deut-
lichen Eindruck der Natur empfängt, der ist ein malerisches Talent
im höheren Sinne. Auch hier giebt es verschiedene Abstufungen, je
nachdem der Künstler die Natur aus zweiter Hand oder direkt nach-
ahmt. Ein Maler, der mit den technischen Mitteln seiner Kunst die
Natur selbständig darstellt und dadurch andere zur lebendigen Vor-
stellung eben dieser Natur anregt, steht höher als einer, der die
Natur zwar technisch geschickt aber in konventionellen Formen
nachahmt. Der Übergang von der höheren Stufe des Talents zum
Genie ist sehr schwer zu erkennen, überhaupt wie alles Psycho-
logische flüssig. Man kann nur sagen, dass das Genie sowohl eine
gewisse Intensität, als auch eine grosse Vielseitigkeit der Natur-
anschauung neben der Fähigkeit einer sehr starken Illusions-
erzeugung besitzt. Wer sich in alle Seiten der Natur so intensiv
hineinfühlen kann und dabei die technischen Mittel seiner Kunst so
beherrscht, dass er im stände ist, die Anschauungen und Gefühle
 
Annotationen