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^ s- ^ Prcis fnr cincn Band von 24 Numincrn 3 st. rh odcr t Ntblr.
^ » 21 Sgr. Einzclnc Niimincrn kostcn 9 kr. rh. od. 3 Sgr.

Die Neujahrsnacht

Dic Neujahrsnacht war an-
gcbrochen, die Nacht, wo der
Mensch mit stillem Schmerz
zurückschaut auf dic vielen Lei-
den und wenigcn Frcuden, aus
die vielen Enttäuschungcn und
die wenigen zur Wahrhcit ge-
wordenen Hoffnungen cincs ab-
gelaufcncn Jahres, und wo cr,
um deu Eindruck dicser herben
Erfahrungen ;u verwischen und
mit erkünsteltem frohen Muthe
den Schicksalcn des ncu an-
brechendcn Jahres entgegcnzu-
gehen, zu dcm Glase greift,
und seiiicin Frenndc zutrinkr
auf alte Licbe und neues Hoffen!

Einsam lag Michel in dcr
matterleuchteten Stube seincr
niedrigcn Hütte auf ärmlichcm Lager. Jhm saß kein Frcund
zur Seite, der ihm Worle deS Trostes und der Erinun-
tcrung zusprach in diescr ernsten, schweren Stundc. Trübe
und marternde Gedanken zogen durch seinc Seele, Lie sich,
als er allmälig crst in einen leisen und bald immer tiefcrn
Schlaf gesunken war, zu einem schrccklichen Traumbilde
fortsetzten.

Michel träumte, das Endc aller Tage wäre gekommen,
und alle Völker des ErdballS wären gcladen vor den Richtcr-
stuhl des allgemcinen, großen Gerichtes. Auf hohem, blitz-
umflammten Throne stand dcr Gcuius dcr Geschichte, eine

eines Ungliicklichen.

hehre, majestätische Gestalt, dic
in der eincn Hand das flam-
mende Schwert der Wahrheit,
in der andern die partbeilose
Wage der Gercchtigkeit hielt.
Jhr zur Sciic stand der Ge-
nius der Freiheit, eine uncnd-
lich zarte und holde Erschci-
nung, dcreu blciches Dulderge-
sichi von den Strahlen der Ver-
klärung zaubei isch umflossen war.

Die Völker dcs Erdballs
wurden in ihrer gcschichtlichen
Neihensolge von dem Herolbe
dcr Ewigkcit vor den Nichter-
stuhl geladen. Jn bunkem Wech-
sel von Entsctzen und Jubel
sah Michel, wie die Völker,
welche dcm Gcnius der Freihcit
die tiefen Wundcn geschlagen, dereu Male an dem zarten,
ätherischen Körper noch zu ichauen waren, dcn Däinonen
ewiger Rache preisgegcben; dagcgcn die Völker, welche diese
Wunden wicdcr gepflegt. gelindcrt und gcheilt hatten, von
den Genien cwigen Nuhmes und ewigen Genusscs in strah-
lende Sonnenwohnungen fortgeführt wurdcn.

Endlich kam die Reihe auch an Michcl. Blcich, zitternd
und von namenloser Scelenangst gefoltcrt, trat er vor das
unerbittliche Tribunal. Hoch empor hob flch dcr Genius
der Geschichte, indeß der Genius der Freihcit mit schrccklichem
Zucken sein blasscs, leidendcs Antlitz abwandte. Der Genius


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