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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0118

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96

Zweites Buch.

Wesen des
Volkes.

Freiheits-

sinn.

Sinn für.
Maass und
Harmonie.

Griechische

Culturallge-

nieingiiltiy.

Lage inmitten dreier Welttheile zum Handel, zur Meerfahrt, zur Beweglichkeit
des Denkens und Trachtens.

. Auf diesem bevorzugten Boden treffen wir nun ein Volk, das in seinem
Wesen die Vorzüge des Landes, gleichsam in höchster Potenz entwickelt, zur
edelsten Blüthe entfaltet zeigt. War bei jenen Völkern des früheren Alter-
thums irgend eine Seite menschlicher Begabung auf Kosten der übrigen aus-
schliesslich vorwiegend, dort die Phantasie, dort der grübelnde Verstand, dort
die praktische Richtung nach Aussen: so sind in den Griechen jene Eigen-
thümlichkeiten auf’s Edelste verschmolzen. Da nun keine zum Nachtheil der
andern ausgebildet wurde, so erwuchs daraus einestheils ein Sinn für weises
Maasshalten, welcher der kolossalen Ungeheuerlichkeit abhold war, andern-
theils eine Harmonie der Durchbildung, welche den Menschen nach seiner sinn-
lichen und geistigen Seite zu einem in sich einigen, geschlossenen Individuum
ausprägte.

Hiermit hing der den Griechen innewohnende mächtige Trieb zur Freiheit
zusammen. Selbst ihre alten Alleinherrschaften, die in der Heroenzeit überall
bestanden, waren weit entfernt vom Charakter asiatischer Despotie. Wir
finden ihre Könige von einem Ratlie der Aeltesten, Weisesten umgeben, und
schon damals haben die Versammlungen des Volkes einen bestimmenden Ein-
fluss auf die öffentlichen Angelegenheiten. Aus dem Sturze jener Herrscher-
geschlechter erhob sich sodann der kräftige Baum staatlicher Freiheit, unter
dessen schützendem Dache allein jene hohe Culturblüthe sich entfalten konnte,
welche die Bewunderung aller Zeiten ist. Welch ein Gegensatz zu jenen des-
potisch regierten Völkern des Orients! Dort wurden alle Unternehmungen,
auch die künstlerischen, von einem unumschränkten Herrscherwillen dictirt,
dem die Masse des ausführenden Volkes sclavisch gehorchte. Daher in allen
jenen Werken eine eintönige Kolossalität, welche den Mangel geistig freien Ge-
präges durch das Massenhafte vergeblich zu ersetzen sucht. Bei den Griechen
aber entsprangen jene herrlichen Kunstwerke dem lebendigen Sinne, dem that-
kräftigen, selbstbestimmenden Geiste des Volkes. Daher jene klar umgrenzte,
mit plastischer Bestimmtheit sich von der Naturumgebung ablösende Gestalt
der Bauwerke, die wie lebenerfüllte Individuen vor uns stehen.

Doch die Freiheit allein, dies Grundprincip griechischen Wesens, würde
leicht in schrankenlose Willkür entartet sein, wenn nicht der angeborene Sinn
für Harmonie, für edles Maass zügelnd dazugetreten wäre. Es lebte in jenem
Volke eine geradezu religiöse Scheu vor dem Uebertriebeneu, Maasslosen; aus
allen ihren Schöpfungen weht uns wolilthuend, beruhigend dieser Hauch ent-
gegen, und in ihren Tragödien ist das Ueb er sehr eiten jenes Grundgesetzes
stets der Angelpunkt der tragischen Katastrophe. Desswegen war in ihren
Freistaaten, selbst in den am meisten demokratischen, ein starkes aristokra-
tisches Element vorhanden, aber es war die edelste, beste Aristokratie, die
jeder gebildete Geist mit Freuden anerkennt, die Aristokratie der Edelsten,
Besten.

In diesen Eigenschaften allein ist es zu suchen, dass griechische Bildung,
griechische Kunst bei aller fest ausgeprägten nationalen Form doch eine All-
gemeingültigkeit hat, welche sie zum unerreichten Vorbilde alles Dessen, was
naturgemäss, einfach, wahr und schön ist, für alle kommenden Zeiten und
Völker gemacht, welche ihr vorzugsweise den Ehrennamen der klassischen
erworben hat. Auch die Inder, Aegypter, Perser hatten ihre Baukunst als
eine wesentlich nationale ausgebildet. Aber jene nationalen Charaktere waren
 
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