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Meier-Graefe, Julius [Hrsg.]; Corot, Jean-Baptiste-Camille [Ill.]
Corot — Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.27162#0110
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neutralem Hintergrund ohne alles Beiwerk. Die Pose ist harmloser, bleibt mehr im
Bildnis-Rahmen, steht uns näher als die Heroine, mit der man unwillkürlich eine ent-
legene Geschichte verbindet, und der Eindruck geht noch tiefer. Die Italienerin der
Sammlung Schmitz in Dresden (CXXX) krönt die Reihe. Die farbige Zurichtung gleicht
vielen anderen Bildern; wieder so ein pastoser gelber Ärmel, wieder so eine blaue Schleife,
so ein Weiß in der Wäsche, so ein Rot in den Achselstücken und in dem kappenartigen
Tuch auf dem dunkelbraunen Haar. Wichtiger ist schon, wie der Arm an dem mächtigen
Rumpf sitzt, wie sich Brust und Nacken gleich einem aufsteigenden Gelände wölben;
noch wichtiger die Haltung der Linken, diese Kühnheit der langen Finger, die das Mie-
der berühren; eine dem Zufall abgelesene Gebärde, die, eingefügt in die Quadratur der
strengen Komposition, Symbol wird, gleich der Hand eines Heiligen, der mit dem Zeige-
finger auf das Instrument seiner Marter deutet. Diese Hand fordert alles von dem Haupt.
Ein Bildhauer, der die Hand gefunden hätte, wäre verleitet, sich mit dem Torso zu be-
gnügen. Das Gesicht der Italienerin erfüllt mehr als die kühnste Forderung. Die starken
Züge werden von dem Licht — es liegt auf der Stirn wie auf einer Bergkuppe - zu einem
Oval gebändigt. Es ist nicht so gerundet wie das Gesicht der Femme ä la Perle, hat nichts
Mädchenhaftes. Die Grazie paart sich mit Hoheit. Der Blick der tief beschatteten Augen
sieht über die Gebärde der Hand hinweg. So erhebt sich die Heiligenfigur über ihre kirch-
liche Bestimmung. Man denkt hier nicht an Heilige noch an Kirche aber glaubt, sich in
Bereichen von ähnlicher Ausdehnung zu befinden. Auf einem anderen Bilde nach der-
selben Italienerin ist nur der Kopf ganz ausgeführt (CXXVIIl); Büste und Arme blieben
Skizze. Die schattenhafte Linke hält eine rote Blume. Die summarische Behandlung
dieses Teils wirkt wohltätig, so gewaltig berührt uns das übrige, und man möchte fast
glauben, die blumentragende Hand sei absichtlich so gehalten, um dieser Gebärde eine
hinwegführende Symbolik zu verleihen. Die Büste steht mehr im Profil, und das Gesicht
kehrt sich uns zu. Wir sind von Güte und Hoheit übergossen. Das Bild hing im Hause
Havemeyer in New York nahe dem Plafond, wo sich die Farbe verlor. Selbst da behielt
die Form den Wohllaut und die gebietende Sprache, als wäre sie Teil eines großgefügten
Wandbildes, die Hauptfigur auf dem Gipfel eines Fresco. Eine Spannung trieb mich,
nach der Legende von der roten Blume zu suchen.

In diese Sphäre gehört noch manches Bild der New Yorker Sammlung, der bei weitem
reichsten an Figurenbildern. Hier im Kreise hoher Meister aller Zeiten fand man den
Abstand. Nach den Holbein, Rembrandt, Greco, nach Goya und Courbet, nach den
Manets stand man vor der schmalen Wand mit den kleinen Figuren und kam nicht wie-
der los. Corot brachte etwas, das die anderen bei allem Reichtum alle nicht hatten,
 
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