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Meier-Graefe, Julius [Hrsg.]; Corot, Jean-Baptiste-Camille [Ill.]
Corot — Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.27162#0009
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VTonxiort

NEULICH GING MIR VON EINEM UNBEKANNTEN EIN GEFÄLLIGER, MIT DER
Schreibmaschine hergestellter Brief zu. Abgesehen von der Gefälligkeit sagte er etwaFol-
gendes: Warum schreiben Sie immer noch über Kunst? Sie nehmen sogar Gegenstände
wieder vor, die Sie früher bereits in anderer Form behandelt haben. Finden Sie Bücher,
die sich nur reiche Leute in den Schrank stellen können, zeitgemäß? Glauben Sie nicht,
daß sich das müßige Kunstinteresse erschöpft hat und wir heute anderer Dinge bedürfen?
Wären Sie nicht imstande, nützlichere Bücher zu schreiben, allenfalls zu dichten? —

So ungefähr aber sechs Seiten lang, unterzeichnet X. —Hier meine Antwort.

Lieber X! Dichten ist schwer. Dafür fehlt mir alles mögliche, und mein Vater hat es mir
in früher Jugend abgewöhnt. Er machte es nicht mit Strenge, sondern wirksam, denn er
war ein weiser Pädagoge. Traf er mich träumend in der Ecke und ich konnte das Papier
nicht schnell genug unter den Tisch bringen, so zitierte er den Vers von dem kleinen Fritz,
den es dichtert und den die Mutter auf den Sitz hebt. Das half, es fraß sich tief in mein
Innerstes ein. Natürlich, wenn ich ein richtiger gewesen wäre, hätte das alles nichts ge-
nützt, und eine Weile habe ich es auch trotzdem getan. Offenbar war ich kein richti-
ger, mußte aber schreiben. Jeder hat sein Laster, und das meine richtet weniger Unheil
an, als wenn ich Satyr wäre. So kam ich zu meiner Spezialität. Aus Kunstinteresse?
Lieber X, —übrigens, verzeihen Sie, lieber oder liebe? Entweder sind Sie ein ganz
junger liebenswerter Mann oder eine ältere Dame. Ihr Hang zur Poesie macht Sie ver-
dächtig. Womöglich reimen Sie selber. Dagegen könnte Ihr Eintreten für zeitgemäße
Forderungen maskulin sein, zumal Ihre Abneigung gegen das Kunstinteresse. Die teile
ich. Dieses Interesse der Nichtstuer nach Iiow do you do? und dem schönen Wetter,
zwischen Jazz und Kino, Sie haben recht, es erschöpft sich. Ich gehe noch weiter: auch
das Kunstinteresse der Kenner, auch das der Berufsmenschen, und ich weiß nicht einmal,
ob selbst, wenn es größeren Teilen der Bevölkerung, auch denTuern, zugänglich würde
und bis zur Beeinflussung des allgemeinen Geschmackniveaus ginge, viel darauf zu geben
wäre, da die Tüchtigkeit eines Volkes von solcher Verfeinerung nicht gehoben zu werden
braucht. Sie sehen, ich gehe weit genug. Ich lasse es nur als Laster gelten, denn dagegen
hilft alles Nichtgeltenlassen doch nicht. Nur als Fanatismus hat Kunstinteresse Existenz-
recht. Dann konnte es sogar die von Ihrer Männlichkeit gefürchteten Folgen einer Ge-
schmacksverbesserung einbüßen, denn bei genügender Temperatur hört der Five o’clock
auf. Lieber X, wenn Sie etwa Kunst für feminin halten sollten, weil das Wort fataler-
weise im Deutschen weiblich ist, müssen Sie Ihre Männlichkeit vertiefen, und wenn Sie
 
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