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Meier-Graefe, Julius [Hrsg.]; Corot, Jean-Baptiste-Camille [Ill.]
Corot — Berlin, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.27162#0119
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MAN HAT DAS RECHT, IN DER STIMMUNG DER TRIBUNA ZU SCHLIESSEN.
Die Hohe des Figurenmalers liegt im letzten Jahrzehnt. Die „Dame en bleu“ (CLl) und ein
paar andere nicht geringere Frauenbilder tragen das Datum 1874. Der Katalog geht nicht
viel weiter. Im Januar 75 kam es nur noch zu ein paar Retuschen an vorhergemalten,
für den Salon bestimmten Bildern. Im Februar ist er gestorben. Die Pflicht des Post-
kutschers zwingt zu dem Hinweis, daß die Figurenbilder nicht allein das letzte Wort
haben. Es wimmelt bis zum Schluß von Bildern, die in keineTribuna gehören. Die Sa-
lons der letzten Jahre bleiben in der Note der früheren. Der posthume Salon von 1875
brachte die „Plaisirs du Soir“, den üblichen Nixentanz (R 2195), als zweites Bild „Biblis“,
auch so eine dämmrige Szene (R 2197), und als drittes „Les Bucheronnes“, die holzsu-
chenden Frauen in einer Waldlichtung, die ursprünglich für einen Plieronymus bestimmt
war (R2196). Alle drei waren nach alten Studien komponiert, mit allen Nachteilen
dieses Verfahrens. Corot hat sich, obwohl es ihm Robaut und andere nahe legten, nie
entschließen können, ein Figurenstück in den Salon zu schicken. Achtete er die Art für
zu hoch oder zu niedrig für die offizielle Gelegenheit? Die Frage bleibt offen. Wahr-
scheinlich hatte er sich in den Kopf gesetzt, nur als Landschafter zu gelten, obwohl man
von der wirklichen Potenz des Landschafters auch in den letzten Jahrzehnten im Salon
nur sehr selten etwas zu sehen bekam. Die hinreißenden Bilder wie die von Douai und
Coubron, von Passiance, Luzancy und Limay, von Etretat und Arleux, von Arras gingen
zu den Liebhabern und in den Kunsthandel und blieben der breiten Öffentlichkeit fern.
Fast könnte man glauben, er habe absichtlich seine Höhen verborgen. Die Meisterwerke
stecken gleich Smaragden unregelmäßig verteilt in einem unedlen Material. Manchmal
ist die umgebende Masse weich und schwammig. Die Künstler wußten, die Perlen zu
finden. Pissarro, Monet, Boudin, Sisley und die anderen Jungen hielten sich nicht an
den Salon-Corot. Schon um 1860 wußte die Generation, die den Impressionismus bringen
sollte, Bescheid. Er hat es ihr nicht gedankt. Man sollte meinen, der Maler der „Dame en
bleu“ hätte sich mit den farbenfrohen Enthusiasten, die zur Zeit dieses Bildes bereits
auf der Höhe waren, verstehen müssen. Der Bürger versagte. Er hat nicht nur Manet
sondern auch sein nächstes Gefolge, das seinen Ruhm weiter tragen sollte, mit auffallen-
der Zurückhaltung behandelt, ungleich kühler als die zahllosen Kitschmaler in seiner
Umgebung. Er hat sein Leben lang andere ebenso verkannt wie sich selbst.

Alles in uns sträubt sich gegen die Annahme eines blinden Genies. Ist diese Ausdehnung
der Form ohne Reife des Intellekts denkbar? War es eine seltene Retina, was Corot seine
 
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