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Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. I.
entworfen hat, eine ins Einzelne gehende Monographie an die Seite zu stellen, begleitet
von Abbildungen des Baues in allen seinen Theilen und kunsthistorisch bezeichnenden
Details. — Eine solche auch den höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Mono-
graphie des Mailänder Domes wäre jedoch eine Lebensaufgabe, und nur demjenigen mög-
lich, der in dauerndem Verkehr mit dem Werk selbst stehen kann, am ehesten wohl dem
Manne, der, seit nunmehr fast 25 Jahren Architekt der fabbrica, heute sicherlich der beste
Kenner des Domes ist, Cesa-Bianchi,1) der seine Belesenheit im künstlerischen Riesentext
des Domes bisher nur den gelegentlichen Arbeiten Anderer nutzbar machte, wie er mit
derselben denn auch den Verfasser in freundschaftlichster Weise unterstützt hat. —: So
lange eine solche Monographie des Domes noch aussteht, bleibt auch jede auf ihn bezüg-
liche Einzeluntersuchung zum mindesten unvollständig, und die folgenden, im wesentlichen
auf den Decorationsstil des Domes beschränkten Erörterungen, welche die Kenntnifs
der Baugeschichte selbst voraussetzen, werden diesen Mangel fühlbar hervortreten lassen,
besonders da, wo sie ihr Specialgebiet selbst überschreiten und nothgedrungen allgemeinere
Fragen der Baugeschichte und des Baubetriebes streifen. Aber schon dieser Mifsstand ist
vorerst leider überhaupt unüberwindlich, und ihm gesellen sich ferner auch noch einige
„Probleme“, für welche das heutige „ignoramus“ wohl schon jetzt mit einem „ ignorabimus “
vertauscht werden mufs, da dieselben auch durch die genaueste Forschung kaum sicher
zu lösen sind. Diese Probleme sind hier nur im allgemeinen, lediglich im Hinblick auf
Unser specielles Hauptthema, die Decoration, zu erörtern. Es gehört zu ihnen bereits die
Frage nach dem Schöpfer des Bauplanes. Der corporative Zug der ganzen oberitalieni-
schcn Kunst und besonders ihres Baubetriebes macht am wahrscheinlichsten, dafs ein Mit-
glied der Genossenschaft der Campionesen eine Skizze vorlegte, welche in gemeinsamer
Berathung bearbeitet wurde. War diese aber von vornherein „ad hoc“ in Mailand nach
Mafsgabe der dort vorhandenen Raumbedingungen gezeichnet worden, oder war sie in
ihrer ursprünglichen Gestalt gleichsam nur ein Normalproject einer grofsen Kathedrale,
ähnlich wie etwa im frühen Mittelalter jener berühmte, uns erhaltene Idealentwurf für das
Kloster S. Gallen? Und wie weit hat schon auf diesen Ur plan die Kenntnifs transalpiner
Kirchenarchitektur eingewirkt? Ist er, der Hypothese Boitos gemäfs, jenseits der Alpen
entstanden und in Mailand nur umgeformt worden, oder lag umgekehrt zunächst ein rein
lombardischer Plan vor, der das nordisch-gothische Gepräge erst nachträglich empfing, wie
von den italienischen Forschern besonders Beltrami2) und Carotti, von den deutschen vor
allem F. von Schmidt3) zu beweisen suchten? — Für beide Annahmen lassen sich gewichtige
Gründe geltend machen, und welche von ihnen zu Recht besteht, bleibt kunstgeschichtlich
letzthin belanglos. Denn das kunstgeschichtlich Wesentliche ist, dafs schon nach den
ersten Jahren der Bauausführung eine stilistische Verschmelzung oberitalienischer und
nordisch-gothischer Elemente eintritt, die über die heimische Ueberlieferung hinausweist
und mit unbedingter Sicherheit auf die Kenntnifs und den Einflufs der grofsen transalpinen
Kathedralen schliefsen läfst. — Das wird bereits durch die Beziehungen Giangalcazzos selbst
befürwortet. Sobald dieser der von der Geistlichkeit und der Stadtgemeinde begonnenen
Dombau-Angelegenheit näher trat, war zweifellos sein Wunsch, dafs etwas ganz Aufser-
ordentliches, in Italien Neues entstände. Das entspricht seinem so vielfach bezeugten
Imperatorencharakter. Von den grofsen Kathedralen Frankreichs und Deutschlands aber
mufste er gute Kunde haben, mit Frankreich vor allem war er persönlich durch mehrfache
Familienbeziehungen verbunden. Besafs er doch, als Mitgift seiner Gattin Isabellla, der
Tochter König Johanns des Guten, die Grafschaft Vertus in der Champagne, den Ruhmes-
stätten nordfranzösischer Gothik benachbart. Nicht unwahrscheinlich also, dafs gerade
Giangaleazzo auf die dortigen Muster hinwies. Aber selbst wenn man diesen persön-
1) Vergl. dessen kleine Schrift: Alcune considerazioni unite ai progetti... per la nuova facciata
del Duomo di Milano. Milano 1888.
2) Per la facciata del Duomo di Milano. Parte seconda. Lo Stile. Milano 1887.
3) Vortrag in der Wochenversammlung des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins
am 10. April 1886. Bericht in der „Wochenschrift“ des Vereins. XI. 1886. Nr. 25. S. 228 ff.
Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. I.
entworfen hat, eine ins Einzelne gehende Monographie an die Seite zu stellen, begleitet
von Abbildungen des Baues in allen seinen Theilen und kunsthistorisch bezeichnenden
Details. — Eine solche auch den höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Mono-
graphie des Mailänder Domes wäre jedoch eine Lebensaufgabe, und nur demjenigen mög-
lich, der in dauerndem Verkehr mit dem Werk selbst stehen kann, am ehesten wohl dem
Manne, der, seit nunmehr fast 25 Jahren Architekt der fabbrica, heute sicherlich der beste
Kenner des Domes ist, Cesa-Bianchi,1) der seine Belesenheit im künstlerischen Riesentext
des Domes bisher nur den gelegentlichen Arbeiten Anderer nutzbar machte, wie er mit
derselben denn auch den Verfasser in freundschaftlichster Weise unterstützt hat. —: So
lange eine solche Monographie des Domes noch aussteht, bleibt auch jede auf ihn bezüg-
liche Einzeluntersuchung zum mindesten unvollständig, und die folgenden, im wesentlichen
auf den Decorationsstil des Domes beschränkten Erörterungen, welche die Kenntnifs
der Baugeschichte selbst voraussetzen, werden diesen Mangel fühlbar hervortreten lassen,
besonders da, wo sie ihr Specialgebiet selbst überschreiten und nothgedrungen allgemeinere
Fragen der Baugeschichte und des Baubetriebes streifen. Aber schon dieser Mifsstand ist
vorerst leider überhaupt unüberwindlich, und ihm gesellen sich ferner auch noch einige
„Probleme“, für welche das heutige „ignoramus“ wohl schon jetzt mit einem „ ignorabimus “
vertauscht werden mufs, da dieselben auch durch die genaueste Forschung kaum sicher
zu lösen sind. Diese Probleme sind hier nur im allgemeinen, lediglich im Hinblick auf
Unser specielles Hauptthema, die Decoration, zu erörtern. Es gehört zu ihnen bereits die
Frage nach dem Schöpfer des Bauplanes. Der corporative Zug der ganzen oberitalieni-
schcn Kunst und besonders ihres Baubetriebes macht am wahrscheinlichsten, dafs ein Mit-
glied der Genossenschaft der Campionesen eine Skizze vorlegte, welche in gemeinsamer
Berathung bearbeitet wurde. War diese aber von vornherein „ad hoc“ in Mailand nach
Mafsgabe der dort vorhandenen Raumbedingungen gezeichnet worden, oder war sie in
ihrer ursprünglichen Gestalt gleichsam nur ein Normalproject einer grofsen Kathedrale,
ähnlich wie etwa im frühen Mittelalter jener berühmte, uns erhaltene Idealentwurf für das
Kloster S. Gallen? Und wie weit hat schon auf diesen Ur plan die Kenntnifs transalpiner
Kirchenarchitektur eingewirkt? Ist er, der Hypothese Boitos gemäfs, jenseits der Alpen
entstanden und in Mailand nur umgeformt worden, oder lag umgekehrt zunächst ein rein
lombardischer Plan vor, der das nordisch-gothische Gepräge erst nachträglich empfing, wie
von den italienischen Forschern besonders Beltrami2) und Carotti, von den deutschen vor
allem F. von Schmidt3) zu beweisen suchten? — Für beide Annahmen lassen sich gewichtige
Gründe geltend machen, und welche von ihnen zu Recht besteht, bleibt kunstgeschichtlich
letzthin belanglos. Denn das kunstgeschichtlich Wesentliche ist, dafs schon nach den
ersten Jahren der Bauausführung eine stilistische Verschmelzung oberitalienischer und
nordisch-gothischer Elemente eintritt, die über die heimische Ueberlieferung hinausweist
und mit unbedingter Sicherheit auf die Kenntnifs und den Einflufs der grofsen transalpinen
Kathedralen schliefsen läfst. — Das wird bereits durch die Beziehungen Giangalcazzos selbst
befürwortet. Sobald dieser der von der Geistlichkeit und der Stadtgemeinde begonnenen
Dombau-Angelegenheit näher trat, war zweifellos sein Wunsch, dafs etwas ganz Aufser-
ordentliches, in Italien Neues entstände. Das entspricht seinem so vielfach bezeugten
Imperatorencharakter. Von den grofsen Kathedralen Frankreichs und Deutschlands aber
mufste er gute Kunde haben, mit Frankreich vor allem war er persönlich durch mehrfache
Familienbeziehungen verbunden. Besafs er doch, als Mitgift seiner Gattin Isabellla, der
Tochter König Johanns des Guten, die Grafschaft Vertus in der Champagne, den Ruhmes-
stätten nordfranzösischer Gothik benachbart. Nicht unwahrscheinlich also, dafs gerade
Giangaleazzo auf die dortigen Muster hinwies. Aber selbst wenn man diesen persön-
1) Vergl. dessen kleine Schrift: Alcune considerazioni unite ai progetti... per la nuova facciata
del Duomo di Milano. Milano 1888.
2) Per la facciata del Duomo di Milano. Parte seconda. Lo Stile. Milano 1887.
3) Vortrag in der Wochenversammlung des österreichischen Ingenieur- und Architekten-Vereins
am 10. April 1886. Bericht in der „Wochenschrift“ des Vereins. XI. 1886. Nr. 25. S. 228 ff.