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Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. I.
Italien, und besonders häufig in Oberitalien, vor allem als Stützen der Säulensockel an
Kirchenportalen und Grabdenkmälern ihr Dasein führen. In den decorativen Sculpturen
der Comasken und Campionesen sind diese Figuren hergebracht. Als bäuerisch-täppische
Gesellen hocken sie lebensgrofs unter den Säulen zahlreicher romanischer Domportale, roh
gearbeitet, Schöpfungen handwerklicher Kunst. Sorgsamer, aber in winzigem Mafsstab,
hatte sie Ugo da Campione am stattlichen Grabdenkmal des Cardinals Gullielmus de Longis
de Anderaria (f 1319)1) und noch feiner und kleiner sein Sohn Giovanni am Verkündigungs-
relief im Baptisterium am Dom zu Bergamo
gebildet, wo sie die Aedicula der Maria
tragen,2) ähnlich wie an einem 1317 datir-
ten Relief an der Rückwand des Altars
im Dom von Como. Ueber das bäuerische
Geschlecht dieser „gobbi“ gehen die im
Trecento gelegentlich als Atlanten ver-
wandten Statuen Gewappneter wie ihrem
Stande nach, so auch in ihrem Mafsstab
und Kunstwerth bereits hinaus. Zu ihnen
zählen in Oberitalien beispielsweise die vier
porträthaft individualisirtcn Männer, welche
den Sarkophag des Grafen Rizzardo VI da
Camino (j* 1335) in Sa. Giustina zu Serra-
valle tragen, und im Zusammenhang mit
diesen Grabeswächtern dürfen wohl auch
die Ritterfiguren genannt werden, mit
denen Bonino da Campione das Monu-
ment des Cansignorio della Scala in Verona
umgiebt, obgleich diese schon zu Heiligen
geworden sind. Sie kennzeichnen die
Grenze, auf welcher jene Profanplastik,
die bei den hockenden Stützfiguren und den
Sarkophagträgern ausnahmsweise lebens-
grofse, tektonisch functionirende Statuen
zu schaffen sucht, wiederum in die Bah-
nen der Freisculptur und der Heiligen-
darstellung einlenkt. Von der letzteren
abgesehen, werden wir diese Grenze
auch in der Entwicklung der Giganten-
statuen des Mailänder Domes wieder-
erkennen.
Auch zu deren historischer Er-
Abb. 28. Ritter im Kampfe mit einem Löwen.
,, Gargouille “ an S. Urbain zu Troyes.
klärung bedarf es eines Ausblickes über
die Alpen füglich keineswegs unbedingt.
Dennoch mufs betont werden, dafs all-
gemein verwandte Tragefiguren in der transalpinen Plastik sowohl im romanischen,
wie vollends im gothischen Stil — man denke z. B. an die figürlichen Stützen der
dort als Gewölbeträger dienenden Halbpfeiler -— eine grofse Rolle spielen. In Frankreich
trifft man zuweilen sogar auf unmittelbare Analogien, so an der Kathedrale von S. Urbain
zu Troyes, wo eine durch den Gypsabgufs im Musee de sculpture comparee des Trocadero
in Paris bekannter gewordene Gruppe an gleicher Stätte des Baues, wie in Mailand, einen
im Kampf mit einem Löwen befindlichen Ritter zeigt (Abb. 28). In der Renaissance sind
ähnlich verwerthete Giganten an oberitalienischen Bauten nicht ungewöhnlich. Am be-
1) Vergl. Meyer, Lombard. Denkm. d. 14. Jhrh. S. 51 f. mit Abb.
2I Vergl. ebendort S. 48.
Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. I.
Italien, und besonders häufig in Oberitalien, vor allem als Stützen der Säulensockel an
Kirchenportalen und Grabdenkmälern ihr Dasein führen. In den decorativen Sculpturen
der Comasken und Campionesen sind diese Figuren hergebracht. Als bäuerisch-täppische
Gesellen hocken sie lebensgrofs unter den Säulen zahlreicher romanischer Domportale, roh
gearbeitet, Schöpfungen handwerklicher Kunst. Sorgsamer, aber in winzigem Mafsstab,
hatte sie Ugo da Campione am stattlichen Grabdenkmal des Cardinals Gullielmus de Longis
de Anderaria (f 1319)1) und noch feiner und kleiner sein Sohn Giovanni am Verkündigungs-
relief im Baptisterium am Dom zu Bergamo
gebildet, wo sie die Aedicula der Maria
tragen,2) ähnlich wie an einem 1317 datir-
ten Relief an der Rückwand des Altars
im Dom von Como. Ueber das bäuerische
Geschlecht dieser „gobbi“ gehen die im
Trecento gelegentlich als Atlanten ver-
wandten Statuen Gewappneter wie ihrem
Stande nach, so auch in ihrem Mafsstab
und Kunstwerth bereits hinaus. Zu ihnen
zählen in Oberitalien beispielsweise die vier
porträthaft individualisirtcn Männer, welche
den Sarkophag des Grafen Rizzardo VI da
Camino (j* 1335) in Sa. Giustina zu Serra-
valle tragen, und im Zusammenhang mit
diesen Grabeswächtern dürfen wohl auch
die Ritterfiguren genannt werden, mit
denen Bonino da Campione das Monu-
ment des Cansignorio della Scala in Verona
umgiebt, obgleich diese schon zu Heiligen
geworden sind. Sie kennzeichnen die
Grenze, auf welcher jene Profanplastik,
die bei den hockenden Stützfiguren und den
Sarkophagträgern ausnahmsweise lebens-
grofse, tektonisch functionirende Statuen
zu schaffen sucht, wiederum in die Bah-
nen der Freisculptur und der Heiligen-
darstellung einlenkt. Von der letzteren
abgesehen, werden wir diese Grenze
auch in der Entwicklung der Giganten-
statuen des Mailänder Domes wieder-
erkennen.
Auch zu deren historischer Er-
Abb. 28. Ritter im Kampfe mit einem Löwen.
,, Gargouille “ an S. Urbain zu Troyes.
klärung bedarf es eines Ausblickes über
die Alpen füglich keineswegs unbedingt.
Dennoch mufs betont werden, dafs all-
gemein verwandte Tragefiguren in der transalpinen Plastik sowohl im romanischen,
wie vollends im gothischen Stil — man denke z. B. an die figürlichen Stützen der
dort als Gewölbeträger dienenden Halbpfeiler -— eine grofse Rolle spielen. In Frankreich
trifft man zuweilen sogar auf unmittelbare Analogien, so an der Kathedrale von S. Urbain
zu Troyes, wo eine durch den Gypsabgufs im Musee de sculpture comparee des Trocadero
in Paris bekannter gewordene Gruppe an gleicher Stätte des Baues, wie in Mailand, einen
im Kampf mit einem Löwen befindlichen Ritter zeigt (Abb. 28). In der Renaissance sind
ähnlich verwerthete Giganten an oberitalienischen Bauten nicht ungewöhnlich. Am be-
1) Vergl. Meyer, Lombard. Denkm. d. 14. Jhrh. S. 51 f. mit Abb.
2I Vergl. ebendort S. 48.