Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
138

Rückblick. Gesamtverhältnifs zur antiken und mittelalterlichen Tradition.

Renaissance ist dem Frühling verwandt, aber die Gothik, welche durch sic verdrängt wurde,
darf auch in Italien keineswegs mit winterlicher Erstarrung verglichen werden. Den
italienischen Decorationsstil der Spätgothik hat Jacob Burckhardt mit vollem Recht „ihren
letzten prachtvoll lebenden Spröfsling“ genannt; ja, diese italienische Spätgothik ist der-
jenigen jenseits der Alpen, die sich in jenen „Astwerkarchitekturen“ mit kleinlich nach-
gebildeten Zweigen, Blättern und Blüthcn und in technischen Spielereien gefällt, an Frische
entschieden oft überlegen. Jenem theilweise erkünstelten Naturalismus der nordischen
Spätgothik gegenüber schafft sie durch ihre malerisch-reizvolle Stilisirung der Formen eine
selbständige Ornamentik. Das lehrt vor allem die Spätgothik Obcritalicns. Die schönste
Eigenart gewinnt dieselbe dort aber zweifellos in Venedig. Die Front der Ca’d’oro und
die Porta della Carta bleiben in ganz Italien unerreicht. In der Eagunenstadt scheint auch
dieser spätgothische Uebergangsstil wie von einem Hauch orientalischer Phantasie gestreift.
Gelegentlich liefsen sich ähnliche Züge auch in Mailand wahrnehmen, und die Künstler-
geschichte gab dafür ausreichende Erklärung, im Ganzen aber ist die lombardische Spät-
gothik doch von vornherein durch den Mailänder Dom im Grundcharakter ihrer Decoration
stärker mit dem germanischen Norden verbunden. Dadurch wird auch ihr Verhältnifs zur
gleichzeitigen Florentiner Stilweisc bestimmt. Auch in Florenz hat diese spätgothische
Uebergangskunst einer ganzen Reihe von Denkmälern das Gepräge verliehen, welche in-
folgedessen den geschilderten lombardischen Monumenten nah verwandt scheinen. Aber
dem Werthe nach stehen diese Werke Toscanas zweifellos höher. Auch bei gröfstem
Reichthum wahren sie noch eine eigenartige Vornehmheit und mafsvolle Feinheit. Wenn
man die Gothik des Mailänder Domes an der Decoration des Campanile und der Chorthcile
der Kathedrale von Florenz mifst, versteht man, warum sie von Filarete und Vasari als
„Barbarenstil“ bezeichnet wurde. Achnlich auch bei einem Vergleich kleinerer Arbeiten!
Schon lange vor dem Beginn der Mailänder Kathedrale waren in Florenz Zierstücke wie
das Tabernakel Orcagnas in Orsanmichelc, die Fensterfüllungen dieses Baues, und das
Bigallo entstanden! Für den spätgothischen Decorationsstil des Mailänder Domes selbst,
wie er sich dann auf Grund der transalpinen Formen vor allem unter Filippo degli Organi
entwickelt, bieten in Florenz besonders die Fenster und Portale des Domes, sowie die
älteren Nischenumrahmungen von Orsanmichelc charakteristische Gegenbilder, deren künst-
lerische Uebcrlegenhcit ebenfalls kaum bestritten werden kann. In der toscanischen Luft selbst
liegt gleichsam ein verfeinernder Zauber, wie einst für die antik-griechische Kunst in derjenigen
Atticas. In der Lombardei wird Alles effectvoller, in gewissem Sinne gröber. Bezeichnend
dafür ist besonders auch, dafs die Lombardei jene farbige Marmorincrustation in der Technik
der sogen. „Cosmatenarbeit“, welche in Florenz selbst noch in der Renaissance oft so prächtig
fortlebt, nicht kennt. An deren Stelle trat dort die zu einer malerisch üppigen Formen-
behandlung lockende Terracotta. In gleichem Sinne wird es bedeutungsvoll, dass die
ersten echt lombardischen Hauptmeister dieses Uebcrgangsstiles, Pietro und Giuniforte Solari,
zugleich Hauptvertreter der Backstein-Decoration sind. Ihre Formenbehandlung ist auch
da, wo sic sich, wie bei der Gesims- und der Arcadenbildung, classischer Details bedienen,
vor allem effectvoll. Auch in der Frührenaissance selbst stellt sich diese Kunstweise,
soweit sie echt lombardisch bleibt, durchaus nur in den Dienst malerischer Pracht, und
kennt in ihrer schmückenden Zuthat kein die Formen- und Farbenfülle beschränkendes
Mafs, keine streng organisch gebundene Anordnung, keine unvereinbaren Gegensätze der
Stilweisen. Die architektonische Zucht, die Vertiefung der decorativen Aufgabe, und die
Verfeinerung ihrer Mittel ward der Lombardei auch dann erst von aufsen her zugeführt,
durch eine persönliche Kraft, welche alle bisher geschilderten Sendboten mittelitalienischer
Renaissance1) in königlicher Gröfse überragt: durch Br am ante. Trotzdem sollte auch
dieser dem lombardischen Geschmack innerhalb der oben angedcuteten Richtung Zugeständ-

1) Ein persönlicher Einflufs von Bramantes gröfstem mittelitalienischen Vorgänger, Brunel-
leschi, auf die lombardische Decoration scheint nach den neueren Erörterungen über dessen Mai-
länder Aufenthalt ausgeschlossen, denn dieser, wahrscheinlich zwischen 1428 und 1432, galt höchstens
constructiven Aufgaben. Vergl. v. Fabriczy, a. a. O. S. 373 ff.
 
Annotationen