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Kommentare zu den Interpretationen 107

2. Zu Gananath Obeyesekere

So wie man Bruce Kapferer, wenn man ihn kritisieren will, den
Vorwurf machen könnte, er ginge in seiner Interpretation zu
generell an den Ablauf der Geschehnisse in einer Zeremonie heran,
so daS bei ihm gesellschaftliche Aspekte eine'größere Rolle spielen
als was mit dem jeweiligen Patienten währenddessen geschieht,
könnte man bei Obeyesekere wieder bemängeln, daß er durch seine
psychoanalytische Vorgehensweise zu partikularistisch werde, denn
die für einzelne Erkrankte durchaus gültigen Analysen lassen sich
nicht ohne weiteres auf die Allgemeinheit übertragen, sie sind zu
individuell dafür.

Tatsächlich beschränkt er seine Analysen weitgehend auf die von
Freud vorgegebenen Themen: frühkindliche Erfahrungen von Zurück-
weisung, die Verweigerung von elterlicher Zuwendung und der Zwang
zur Unterdrückung kindlicher Aggressionen, der von Mädchen noch
mehr verlangt wird als von Knaben, weil deren Sozialisation anders
verläuft. Männern sei generell mehr erlaubt, Aggressionen zu zeigen
und abzureagieren, die weibliche Tugend dagegen sei vor allem in
der singhalesischen Mittelschicht, geradezu extrem friedfertig zu
sein, was die Unterdrückung jeder Aggression verlangt. Der Theorie
von der frühkindlichen Traumatisierung folgend, interpretiert er in
einer Fallstudie (1975b) die Erlebnisse, die eine Patientin im
Erwachsenenaiter gehabt hatte, deswegen nur im Hinblick auf ihre
verstärkende Wirkung auf schon während ihrer Kindheit begonnene
Prozesse der Verdrängung von traumatischen Erfahrungen und der
dadurch hervorgerufenen Aggressionen. Die späteren Geschehnisse
werden lediglich als eine indirekte Wiederholung des schon früher
Geschehenen, als eine Art zwanghafter Reprise des Traumaerlebens,
dargestellt. Die Tatsache, daß die Frau sich in einen Mann verliebte
und ihn heiratete, der sie später zu schlagen begann, und daß sie
sich trotz der Aufforderung ihrer Eltern, zu ihnen zurückzukehren,
lange von ihm nicht trennen wollte, deutet er als eine Ueigung zum
Xasochismus, der aus der Verdrängung entstand; die Aggression, die
trotz der starken einsozialisierten Kontrolle nur mühsam unter-
 
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