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Kurt Bauch

leitet sie die Kompositionsformen zum Gekreuzigten hinüber. — Sparsam und gemessen sind die Bewegungen
dieser langgestreckten Menschengestalten, ihrer stillen Körper, ihrer eng anliegenden Arme, ihrer langen
Hände, ihrer kaum überhaupt motivierten Gesichter. In ihrer schlichten, distinguierten Gebärdung stellen
sich Zusammenhänge von schwebender, übertragener Funktion her: der Engel blickt in Marias Antlitz, ihr
Auge richtet sich ins Leere, Zukünftige. Hinter dem niederschauenden Antlitz der Mutter, deren Blick in dem
des Kindes ruht, erscheint das schöne und bewegte Haupt des Nährvaters über ihrer Schulter. — Die Form
ist voll Ausdruck. Antlitze, Hände, Haare sind in scharfen Konturen klar begrenzt. In gleich einfachen,
präzisen Formen fällt das Gewand nieder. Der magere (doch keineswegs kahle oder ärmliche, nur ganz
geschärfte) Umriß der Heiligen neben dem Kreuz, die Einfachheit ihrer Außen- und Binnenmotive (Ellen-
bogen!) ist einzigartig kühn. Groß abgegrenzt behauptet sich die Form von Marias Mantel zwischen den
reicheren Figuren der Josephsgestalt und der Bodendraperie mit dem Kinde. Das Äußerste an Formenausdruck
liegt in dem Gewand der stehenden Jungfrau: zu glatten, scharfen Bahnen zusammengerafft, stellt es sich
gegen das schön aufgebaute Engelskleid, dessen breite Faltenfiguren zu den zarten, straffen Kannelüren der
Rumpfpartie aufsteigen, durchquert von den kräftig gezeichneten Formationen von Sinus und Ärmel. — Denn
alles ist in flacher, doch ganz folgerichtiger und einheitlicher Entfaltung projiziert wie ein flach gemeißeltes
Relief. Für den Formengeist des Ganzen ist das steile, nur umrissene Szepter des Engels oder sein Diadem
bezeichnend, das allein aus fein unterschiedenen metallischen Punkten besteht. Nichts ist dürftig oder dünn,
sondern alles eine Reduktion aus der Fülle. Dafür könnten — wenn es nicht jede einzelne Form schon täte —
die vielen Einzelzüge und -motive zeugen: die Schilderungen des Bodens, die leicht veränderte Gottvater-
gestalt, die Stifterfiguren (mit den unterschiedenen Händen), das reizend vermenschlichte Vieh.
Dieser Altar, der also nach Fütterers wichtiger Feststellung zwischen 1454 und 1460 entstanden ist,
wird von ihr für das einheitliche Werk eines aus der oberrheinischen Kunsttradition herauswachsenden Vor-
läufers von Schongauer gehalten4.
Allein, das ist undenkbar. In diesen Flügelbildern ist nicht etwa nur die Grundlage für Schongauer
gegeben, sondern schon sein Stil selbst verwirklicht. Gegenüber einem solchen „Vorläufer" würde für
Schongauers Leistung nichts übrig bleiben als ein epigonenhaftes Ausgestalten, fast nur ein schematisierendes

4 Ein „Frühwerk" dieses Vorläufers sei ein Kreuzigungsbild in Oberweier in Baden (Abb. 6), das
noch „der Kunstrichtung des Kolmarer-Tennenbacher Meisters (Mstr. d. Frankfurter Paradiesgärtleins) zuzuzählen" sei. Nach
der „Berührung mit Roger" hätte der Meister dann „die große Entwicklung zum Stauffenbergaltar" vollzogen.
Wirklich hat die kleine Oberweierer Votivtafel einerseits Zusammenhänge mit dem Stauffenbergaltar, andererseits
noch Elemente der Vorgeneration. Allein es geht nicht an, die Ansetzung eines Bildes rein quantitativ aus der Summe der
Indizien zu ermitteln. Man muß nach ihrer Qualität unterscheiden.
Das hübsche, doch nicht bedeutende, teilweise schlecht erhaltene Werk kann nicht um 1440—50 entstanden sein, da es
schon Rogerelemente aufweist. Das „porzellanhaft glatte Inkarnat (Maria), der messerscharfe Kontur", die Fütterer hervor-
hebt, gehen auf Roger zurück, ebenso Figur und Haltung der Barbara, das Gewandmotiv des Evangelisten Johannes und der
Körper des Gekreuzigten. Obendrein stammen diese Dinge gerade vom Stauffenbergaltar. Fast alles ist dort vorgebildet und
in der Oberweierer Tafel schematisch übernommen: es genügt, die Gesamtkomposition, die Stifterin, den Christusakt als Bei-
spiele zu vergleichen, um zu erkennen, wie hier der große Stil des Stauffenbergaltars nachgemacht ist. Einzelne Motive
scheinen sogar später als das stilistische Vorbild, etwa das flatternde Lendentuch und die bewegte Haltung der Barbara. Eine
Entwicklung von hier zum Stauffenbergaltar wäre undenkbar.
Jedoch hat der Meister der Oberweierer Votivtafel sich den Stil seines Vorbildes nicht ganz zu eigen machen können,
sondern daneben frühere Elemente verwandt. Zwar ist nicht einzusehen, was der Johannesköpf mit dem auf der Kolmarer
Kreuzigung von etwa 1400 (Abb. a. a. O.), was der Kopf der Stifterin mit dem des Mönches dort gemeinsam haben sollte.

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