WETTSTREIT DER MALEREI MIT DER MUSIK.
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Der Maler aber antwortet und spricht, dass der von den
menschlichen Gliedmaassen zusammengefügte Körper das Wohl-
gefallen, das er gewährt, nicht in harmonischen Zeitabschnitten
spendet, in denen sich seine Schönheit zu verwandeln hätte,
indem sie einem anderen Körper Gestaltung gäbe, und dass sie
ebensowenig in diesen Zeitmaassen (immer auf's Neue) zu ent-
stehen und zu ersterben brauche. Vielmehr mache die Malerei
diesen Körper dauernd, auf viele Jahre hin, und sei von solcher
Vorzüglichkeit, dass sie selbige Harmonie wohlproportionirter
Glieder, welche die Natur mit allem Kraftaufwand nicht zu er-
halten vermöchte, lebendig aufbewahre. Wie viele Malereien
haben schon von göttlicher Schönheit ein Ebenbild erhalten,
dessen wirkliches Vorbild Zeit oder Tod in kurzer Zeit zerstört
hatten, und hat sich das Werk des Malers würdiger bewahrt
als das der Natur, seiner Lehrerin.
31. Der Maler gibt eine Abstufung der dem Auge gegen- Nr. 34.
über befindlichen Dinge, ebenso wie der Musiker
eine Stufenleiter der Töne verleiht, die dem Ohr
gegenüberstehen.
Obgleich die dem Auge gegenüberstehenden Dinge, wie sie
allmählich nacheinanderfolgen, in ununterbrochenem Zusammen-
hang eins das andere berühren, so werde ich doch nichtsdesto-
weniger meine Regel (der Abstände) von 20 zu 20 Ellen machen,
ebenso wie der Musiker zwischen den Tönen, obwohl diese
eigentlich alle in eins aneinanderhängen, einige wenige Abstufungen
von Ton zu Ton angebracht hat, dieselben Prime, Secunde,
Terz, Quart und Quinte benennend, und so von Stufe zu Stufe
für die Mannigfaltigkeit des Aufsteigens und Niedersinkens der
Stimme Namen einsetzte. f)
Wirst du, o Musiker, sagen, die Malerei sei handwerks-
mässig, weil sie mit Verrichtung der Hände betrieben werde,
auch die Musik wird ja mit dem Mund in's Werk gerichtet, der
ist auch ein menschliches Werkzeug, aber (hier) nicht für Rech-
nung des Geschmackssinnes, so wenig, wie die Hand des
Malers für den Tastsinn. (In jedem Falle,) die Worte sind immer
noch weniger werth als (solche) Thaten. 2) Und du, Schreiber der
Wissenschaften, copirst du nicht auch mit der Hand, indem
Lionardo da Vinci. Tract, üb, Malerei.3
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Der Maler aber antwortet und spricht, dass der von den
menschlichen Gliedmaassen zusammengefügte Körper das Wohl-
gefallen, das er gewährt, nicht in harmonischen Zeitabschnitten
spendet, in denen sich seine Schönheit zu verwandeln hätte,
indem sie einem anderen Körper Gestaltung gäbe, und dass sie
ebensowenig in diesen Zeitmaassen (immer auf's Neue) zu ent-
stehen und zu ersterben brauche. Vielmehr mache die Malerei
diesen Körper dauernd, auf viele Jahre hin, und sei von solcher
Vorzüglichkeit, dass sie selbige Harmonie wohlproportionirter
Glieder, welche die Natur mit allem Kraftaufwand nicht zu er-
halten vermöchte, lebendig aufbewahre. Wie viele Malereien
haben schon von göttlicher Schönheit ein Ebenbild erhalten,
dessen wirkliches Vorbild Zeit oder Tod in kurzer Zeit zerstört
hatten, und hat sich das Werk des Malers würdiger bewahrt
als das der Natur, seiner Lehrerin.
31. Der Maler gibt eine Abstufung der dem Auge gegen- Nr. 34.
über befindlichen Dinge, ebenso wie der Musiker
eine Stufenleiter der Töne verleiht, die dem Ohr
gegenüberstehen.
Obgleich die dem Auge gegenüberstehenden Dinge, wie sie
allmählich nacheinanderfolgen, in ununterbrochenem Zusammen-
hang eins das andere berühren, so werde ich doch nichtsdesto-
weniger meine Regel (der Abstände) von 20 zu 20 Ellen machen,
ebenso wie der Musiker zwischen den Tönen, obwohl diese
eigentlich alle in eins aneinanderhängen, einige wenige Abstufungen
von Ton zu Ton angebracht hat, dieselben Prime, Secunde,
Terz, Quart und Quinte benennend, und so von Stufe zu Stufe
für die Mannigfaltigkeit des Aufsteigens und Niedersinkens der
Stimme Namen einsetzte. f)
Wirst du, o Musiker, sagen, die Malerei sei handwerks-
mässig, weil sie mit Verrichtung der Hände betrieben werde,
auch die Musik wird ja mit dem Mund in's Werk gerichtet, der
ist auch ein menschliches Werkzeug, aber (hier) nicht für Rech-
nung des Geschmackssinnes, so wenig, wie die Hand des
Malers für den Tastsinn. (In jedem Falle,) die Worte sind immer
noch weniger werth als (solche) Thaten. 2) Und du, Schreiber der
Wissenschaften, copirst du nicht auch mit der Hand, indem
Lionardo da Vinci. Tract, üb, Malerei.3