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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0103
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die Vorbilder in der Natur parat, und es
ist bei der großen Beobachtungsfähigkeit
und dem scharfen Formengedächtnis der be-
deutenderen Künstler ganz undenkbar, daß
sie blind an diesen Formen vorübergingen,
man wird vielmehr annehmen müssen, daß
sie in ihren dekorativen Schöpfungen immer
nur das frei verarbeiten, was sie infolge
langjähriger Beobachtung von organischem
Leben in sich aufgenommen haben.

Nun wird man freilich fragen: Wie kommt
es, daß trotzdem alle dekorativen Gebilde
so viele Formen aufweisen, die rein geo-
metrischer Art sind, und die sich schon ihrer
Gradlinigkeit wegen nicht auf organische
Vorbilder zurückführen lassen? Auch darauf
gibt die Illusionstheorie eine befriedigende
Antwort. Nach ihr muß nämlich jedes künst-
lerische Gebilde außer den Elementen, die
zu einer Illusion organischer Kraft anregen,
auch solche aufweisen, die dieser Illusion
entgegenarbeiten, das Gefühl für den Stoff
als solchen, für die Materie lebendig erhalten. Ich nenne jene die illusions-
erregenden, diese die illusionsstörenden Elemente. Beide Gattungen können
wir in allen Künsten nachweisen, und ganz besonders zeigt sich in den deko-
rativen Künsten, daß die illusionsstörenden Elemente den illusionsanregenden
die Wage halten. Warum das so sein muß, leuchtet auch sofort ein. Die
Illusion ist ja, wie wir gesehen haben, keine wirkliche Täuschung, sondern
nur eine spielende, eine bewußte. Wir wollen ja ein dekoratives Gebilde nicht
als wirkliche Natur anschauen, sondern wir wollen nur durch seine Formen
an die Natur erinnert werden. Wir wollen uns dem genußreichen Spiel der
Vorstellungen hingeben, das darin besteht, daß wir zwar einerseits tote an-
organische Materie vor uns sehen, andererseits aber doch in dieser toten
anorganischen Materie organisches Leben schauen. Deshalb verlangen wir
geradezu bei jeder kunstgewerblichen Schöpfung ein Doppeltes zu sehen:
Erstens die dem praktischen Zweck angepaßte aus dem Material entwickelte
Werkform, zweitens die durch Analogie von Naturformen, durch Anklang an
das Organische erzeugte Kunstform. Und die Bedingung der dekorativen
Schönheit ist eben die, daß beide Elemente im Kunstwerk zu klarem und un-
zweideutigem Ausdruck kommen. In der richtigen harmonischen Aus-
gleichung der illusionsstörenden und illusionserregenden Elemente
besteht wie in jeder Kunst das Geheimnis des Stils, der höheren
künstlerischen Wirkung.

Aus diesem Grunde verpönen wir auch im Kunstgewerbe jeden Versuch
der Täuschung. Wir wollen das Material, aus dem eine kunstgewerbliche
Schöpfung angefertigt ist, sehen, klar und deutlich in seiner Eigenart erkennen.
Wir wollen uns nicht Marmor statt Stuck, Quader statt Backstein, Bronze statt
Gips vortäuschen lassen, höchstens daß man uns spielend an irgendein ande-

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