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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Lange, K.: Die Entstehung der dekorativen Kunstformen
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0105
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einer Welt voller Wunder und Kräfte, deren Gesetz der Mensch ahnt, das er
fassen möchte, aber nimmer enträtselt, das nur in einzelnen abgerissenen
Akkorden zu ihm dringt und sein Gemüt in stets unbefriedigter Spannung
erhält, zaubert er sich die fehlende Vollkommenheit im Spiel hervor,
bildet er sich eine Welt im kleinen, worin das kosmische Gesetz in engster
Beschränktheit, aber in sich selbst abgeschlossen und in dieser Beziehung voll-
kommen hervortritt. In diesem Spiel befriedigt er seinen kosmogonischen
Instinkt. Schafft ihm die Einbildungskraft diese Bilder, indem sie einzelne
Naturszenen so vor ihm zurechtlegt, erweitert und seiner Stimmung anpaßt,
daß er im Einzelnen die Harmonie des Ganzen zu vernehmen glaubt und
durch diese Illusion für Augenblicke der Wirklichkeit entrissen wird,
so ist dies Naturgenuß, der vom Kunstgenuß eigentlich prinzipiell nicht
verschieden ist. . . . Aber jenen allgemeinen Naturphänomenen mit ihren er-
habenen Schrecken, mit ihren sinnverwirrenden Reizen, mit ihrer unfaßbaren
Gesetzlichkeit treten noch tätige Momente hinzu, die unser Gemüt spannen
und es für die Illusionen der Kunst empfänglich machen. . . .''

Es liegt mir fern zu behaupten, daß Semper schon ein Vertreter der Illusions-
theorie sei. Wäre das der Fall, so hätte ich sie nicht erst zu begründen
brauchen. Ich habe diese Sätze nur zitiert, um zu zeigen, daß der Begriff
des Spiels und der Illusion auch ihm wie allen Aesthetikern seiner Zeit ge-
läufig war, und daß er keine Degradierung und Veräußerlichung der Kunst
darin erblickte, daß man sie auf das Bedürfnis der Linderung des Schmerzes,
mit anderen Worten der Steigerung der Lust durch das Spiel der
Illusion zurückführte.

K. Lange.
Die Ent-
stehung
der deko-
rativen
Kunst-
formen.

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