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Stuttgarter Mitteilungen über Kunst und Gewerbe — 1905-1906

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Mayer, J.: Das neue Frauenkleid
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https://doi.org/10.11588/diglit.6371#0114
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J. Mayer, kM || losen Einschnürung nicht nur sich selbst,

Das neue - sondern das ganze heranwachsende Ge-

Frauen- schlecht schädigt, die Erkenntnis ferner,

kleid. Jffjy^ daß es des Deutschen unwürdig ist, seine

Ideen aus Frankreich zu holen, war die
Triebfeder zu der Bestrebung, die Frauen-
kleidung von Grund auf zu reformieren.

Die Künstler nahmen sich der Ausführung
des großen Werkes an, aber sie trugen
der Gewohnheit des Sehens nicht genug
Rechnung; sie bahnten nicht eine allmäh-
liche Umwandlung mit Anlehnung an die
herrschende Mode an, sondern ersannen
Gewänder, der Mode möglichst entgegen-
gesetzt, weite, wallende, fließende Schleppen-
gewänder, herrlich für den Saal und als
Empfangstoilette, aber unbrauchbar für die
Straße. Dann wurden Straßenkleider er-
dacht wandelnde Ornamente oder
solche, die jedes Reizes entbehrten und
zum Gähnen langweilig — dafür aber auf-
fallend waren. Auf Straßenlänge sich von
anderen Frauen zu unterscheiden, ist nicht
jedermanns Geschmack, zumal wenn der
Unterschied nicht vorteilhaft erscheint. Die-
ses radikale Eingreifen war ein großer
Fehler und hätte der jungen, nach hohen
Zielen strebenden Bewegung fast das Leben gekostet. Der Vorwurf, durch
extravagante und dabei vielfach reizlose Entwürfe der Sache mehr geschadet
als genützt zu haben, kann Vielen, welche zu Anfang der Bewegung die
großen Gedanken ins Praktische zu übertragen suchten, nicht erspart bleiben.
Das Reformkleid, wie das neue Frauenkleid bezeichnet wurde, hatte einen
Beigeschmack bekommen.

"Wenn gleichwohl die Zahl der Anhänger einer gesundheitlichen und künst-
lerischen Frauenkleidung sich von Jahr zu Jahr mehrte, neuerdings sogar in
ganz erstaunlicher Weise auswächst, so ist das ein schlagender Beweis dafür,
daß in der Bewegung ein guter Kern steckt. Sie ist geweckt worden und
gereift durch den Geist unserer Zeit, durch die Bedürfnisse unseres Verkehrs-
lebens, entsprungen den realistischen und naturalistischen Lebensanschauungen
und dem Suchen nach Wahrheit in großen und kleinen Dingen. In die Zeit,
wo alles nach Natürlichkeit schreit, wo man sich geradezu anklammert an
die Natur, paßt die Pariser Modedame, die verbogene und verschrobene
Frauengestalt, nicht mehr.

In Deutschland sind zahlreiche Vereinigungen entstanden, die an den großen
Gedanken weiterarbeiten. Den deutschen Vereinen haben sich Vereine in London
und in Holland angeschlossen; Holland hat unsere deutschen Ideen schneller
erfaßt und ins Praktische übertragen, insbesondere haben sich die dortigen
Geschäftshäuser weniger ablehnend verhalten bei Einführung der neuen Kleidung,

Fig. 6. Dunkelblaues Voile-Kleid mit grünein Unter-
kleid. Applikation aus grünem Spiegelsamt. Ent-
worfen und ausgeführt von Else Kaydt in Stuttgart.

D. Nr. 773.

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