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2. Der Reichstag m Kremsier.

Em kaiserliches Rescript v. 22. October schloß die Sitzungen des
Reichstages in Wien und berief denselben auf den 15. November nach
Kremsier. Gar Manche, welche das Rescript lasen, mußten erst die
Landkarte und geographische Handbücher zu Rathe ziehen, um sich über
die genaue Lage und Beschaffenheit des unbekannten Städtchens eine
klare Anschauung zu verschaffen. Was sie erfuhren, klang nicht tröstlich.
Dem Landwirth mochte das Herz im Leibe lachen, wenn er von der
Fruchtbarkeit der mährischen Marchebene, von dem Bodenreichthum der
Hana, von dem üppigen Wohlleben der Bewohner hörte. Den Ab-
geordneten aber wurde schlecht zu Muthe bei dem Gedanken, in diesem
Bauernparadiese viele Monate zubringen zu müssen. Sie konnten doch
nicht inuner die ziemlich leichtfertigen Fresken bewundern, mit welchen
das vorige Jahrhundert das Sommerschloß der Olmützer Erzbischöfe ge-
schmückt hatte, oder den Park auf- und abschreiten inmitten von Hanaken,
welche rothe Hosen lieben, Bärte hassen, für bunte Bänder und sette
Mehlspeisen schwärmen, im Uebrigen selbst unter ihren Stammgenossen
den Ruf eines gering begabten Volkes besitzen. Der Reichstag wandert
in das Epil, war die allgemeine Klage, als der Befehl zu seiner Ueber-
siedelung nach Kremsier bekannt wurde. Das Verdienst, in dem kleinen,
abseits von allem Verkehre gelegenen slawischen Landstädtchen den passend-
sten Sitz für die österreichische constituirende Versammlung entdeckt zu
haben, gebührt den Czechen und nameutlich ihrem Führer Palazkh.

Die Mitglieder der Reichstagsrechten, welche sich nach der October-
revolution in Prag versammelt hatten, gewannen bald die Ueberzeugung,
daß sie auch im eigenen Jnteresse noch andere Schritte thun müßten,
als blos das Wiener Rumpfparlament der Mitschuld an den October-
 
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