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DIE ÄSTHETISCHE FUNKTION IM LEBEN DER PRIMITIVEN

Schwerlich kann die Schwierigkeit der Problematik, auf die jede denke-
rische Beschäftigung mit der Kultur der primitiven Völkerschaften stößt,
schon sprachlich schärfer formuliert werden als mit den Worten dieser
Überschrift. Denn der Doppelausdruck: „ästhetische Funktion“ ist das
Resultat eines Jahrhunderts kritischer Anspannung, deren ganzer, unablässig
regsamer Wille sich darauf richtete, die einzelnen Tendenzen des kulturellen
Lebens so voneinander zu scheiden, daß innerhalb der einen Formel, mit der
man das Wesen der einen Lebensrichtung bezeichnete, auch nicht der min-
deste Hinweis auf die Formel, mit der man das Wesentliche einer anderen
Lebensrichtung ergreifen wollte, sich nachweisen ließ. Seitdem von Im-
manuel Kant der genialste Vorstoß in dieser Hinsicht vollbracht war, ließ
es die folgenden Generationen nicht ruhen: immer weiter trieb sich das Be-
wußtsein von der Reinheit der funktionellen Impulse. Das Ergebnis dieses
Absehens voneinander und von etwa möglicher Zusammenarbeit war für den
„Fachmann“ immerhin erstaunlich. Noch nie erschienen so reine Typen
menschlicher Arbeit auf der Tribüne der Zeit: der reine Künstler des Im-
pressionismus, der reine Ethiker des Kritizismus, der pure Religiöse Tolstois,
der Nichts-als-Politiker angelsächsischer Prägung. Aber sie waren und
blieben doch, was sie waren: Laboratoriumsprodukte aus zivilisatorischem
Willensentscliluß. Verdichtungen der Lebenskraft, die aber zugleich Ver-
engungen bedeuteten. Denn die Gesamtheit des Lebens wurde nicht ge-
achtet, — ja: dieser Gedanke der Totalität wurde kraftlos.
Die Folgerungen für das künstlerische Dasein zogen sich schnell. Auch
in ihm setzte sich der eigentümlich laboratoriumshafte Charakter der Neu-
zeit rasch und entscheidend durch. Es mag dahingestellt bleiben, ob etwa
das Schlagwort: Kunst für den Künstler (l’art pour l’art) seiner historischen,
zufälligen Geburtsstunde nach eher dem Drange der Befreiung des Kunst-
betriebs aus den Fesseln staatlicher Bevormundung entsprang als dem klaren
Bewußtsein von der Reinheit der künstlerischen Tatkraft. Aber auch wenn
es ursprünglich nur den beschränkteren, negativen Sinn gehabt haben sollte,
so gewann es doch mit immer stärkerer Kraft die Fähigkeit, zum Bindeglied
aller Bestrebungen zu werden, die auf die völlige Loslösung der künst-
lerischen Funktion aus der Gemeinschaft mit den anderen Grundkräften
menschlichen Daseins eingestellt waren. Die zerstörerische Folgewirkung
lag schon vor Jahren offen zutage: die Isolierung des Künstlers im Atelier,
sein Ausschluß aus der öffentlichen Geltung.

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