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DIE ZEICHNERISCHEN KÜNSTE DER NATURVÖLKER

Mit diesem etwas zu speziellen Titel bezeichnen wir alle malerischen
und zeichnerischen Leistungen der Naturvölker: so die Malerei auf der ge-
glätteten Fläche des Steins, der Lederhaut usw. oder auf der ungeglätteten
Oberfläche der Felsen in der Höhle, dann die Zeichnung als solche, dann die
Ritzzeichnung und Feldgravierung. Diese letzten Arten spielen in der natur-
völkischen Kunst eine große Rolle: Indianer, Polarvölker, z. T. auch die
afrikanischen Buschmänner haben sich ihrer bedient. Die Arbeit, welche
vorbereitend den Untergrund glättet und abreibt, ist erst späten Ursprungs.
Zunächst wird der darstellerische Instinkt zur Benutzung des naturhaftesten
Untergrundes getrieben, wie ja auch die frühsteinzeitlichen Höhlen West-
europas ihre Malereien auf plastischem Grunde zeigen, der sich unregelmäßig
hebt und wölbt. Der Trieb, der so sich auswirkt, hat freilich kaum schon
etwas von dem an sich, was die europäischen Maler der Neuzeit antreibt, —
das Subjektivistische fehlt ihm. Was wesentlicher diese urtümliche Farbig-
keit beseelt, ist der sachliche Wille zur bildhaften Formulierung einer
religiös wichtigen Vision und zur Darstellung stammesgeschichtlich bedeut-
samer Ereignisse. In beiden Fällen weicht das Ergebnis der Kunstfertigkeit
von heutigen ab: es ergibt sich ein religiöses Geschehen symbolhaften
Charakters und eine Darstellung bildschrifthafter Art. Es wirkt in ihnen das,
was wir als Grundwesen aller Kunst erkannt und aus der Verschlingung mit
anderen Daseinselementen herausgelöst haben: eben die reine Form, das ab-
strakt Musikhafte der Verhältnisfügungen, — dies wirkt gewiß in allen
naturvölkischen Bildungen in hohem Maße mit. Stärker aber noch als dieses
Element steht im Bewußtsein der primitiven Bildner die andere Doppeltheit
mächtig herrschend da: die Darstellung des geistig-realen Daseins religiöser
Mächte und die Wiederholung — man darf dies Wort hier in seinem kon-
kretesten Sinne nehmen — stammesgeschichtlich wirksamer Ereignisse.
Beide Erscheinungen verwirklichen sich auf der gleichen Schicht des Glau-
bens an die völlige Vitalität der Repräsentation; was wir früher in dieser Be-
ziehung bei den Bildwerken plastischer Art sagten, gilt vollinhaltlich auch
für die Arbeiten malerischer Kunst.
Ihre formale Methode ist die Folgewirkung ihrer ursprünglichen Ge-
bundenheit an die Richtung der statischen Mystik. Negativ drückt sich dies
so aus, daß die europäische Perspektive fehlt. Perspektive bedeutet ja, daß die
einzelnen Dinge als kristallinische Gegebenheiten sich sondern und vonein-
ander abheben, vom Intellekt gleichwohl in eine räumliche Beziehung

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