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DIE NORDGERMANISCHE KUNST DER
VÖLKERWANDERUNGS - UND WIKINGER-ZEIT

Im Bereiche des Mittelmeeres führt von der Bronzezeit an eine ständig
historisch festgelegte und verfolgbare Entwicklung der griechischen und
römischen Kunst durch die ersten Jahrhunderte vor und nach Christi Geburt.
An ihrer Veränderung tätig anteilnehmend: dem übermächtigen Einfluß
der höheren Kultiviertheit gern sich beugend und doch durch die eigene
Geschmacksrichtung in besonders bestimmte Bahnen gelenkt, schufen sich
die germanischen Stämme, die sich friedlich und gewaltsam in das römische
Kaiserreich Bahn brachen, im Bereiche der römischen Provinzialkunst einen
nicht sehr eigenartigen Ausdruck. Nördlich und östlich von diesem großen,
prunkvoll glänzenden Kreise, ausgesetzt der unablässigen Ausstrahlung hoch-
gespannter künstlerischer Kräfte, vollzieht sich die langsamere, selbständigere
Umbildung der überkommenen Einstellung ihrer künstlerischen Instinkte.
Je entfernter der Bezirk vom Mittelpunkte der antiken Kultur und ihrer
Epigonen stand, um so reiner ist der eigene Charakter erkennbar. Aber frei-
lich ist auch hier der allgewaltige Eindruck mittelmeerländischer Gesittung
und Formensprache in hohem Maße spürbar.
Noch ist die kunstgeschichtliche Entwicklung im einzelnen nicht fest-
gestellt. Aber es erscheint neuerdings sicher, daß die germanische Völker-
wanderungskunst keineswegs das Urgermanische vor Augen stellt, sondern
eine Mischkunst repräsentiert, deren wesentlichste Träger, die Ostgoten,
die Inspiration ihrer künstlerischen Tatkraft in Südrußland gewannen.
Die Ostgoten waren die Weichsel hinauf und den Dnjestr hinunter
nach Südrußland gezogen und hatten hier ein großes Reich gegründet. Um
240 sind sie am Schwarzen Meer, ein Jahrzehnt darauf in der Dobrudscha
und auf der Krim. Doch schon nach wenig mehr als einem Jahrhundert warfen
die Hunnen sie aus ihrem neuen Reich, trieben sie westwärts und kurbelten
so die Völkerwanderung an. Bei ihrem Auszug aus Südrußland erscheinen
die Goten in neuem künstlerischen — wenigstens kunstgewerblichen — Ge-
wände. Seine Struktur hatten sie von den Skythen übernommen, auf die sie
in Südrußland trafen und die sie in dünner Oberschicht beherrschten.
Die Kunst der südrussischen Skythen aber war ihrerseits eine
Mischkultur, in welcher sich skythische, griechische und westasiatische
Elemente einten. Von bedeutendem Einfluß war die Kunst der griechischen
Kolonialstädte am Pontus, aus denen ein immer stärker werdender Impuls
gräzisierend ausstrahlte. Als Nebenbuhlerin altjonischer Geschmacksrich-
tung, die sich auf diesem kolonisierenden Wege Bahn brach, trat das

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