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DIE NATURVÖLKISCHE PLASTIK

Der Rückblick auf die Vorgeschichte der plastischen Kunstübung der
Primitiven lehrt mit fast noch erschütternder Schärfe das gleiche wie die
Untersuchung früherer Bauwerke. Ja, noch stärker als diese bekräftigt er
den Eindruck, der sich aus dem Anblick der Osterinseln, der rhodesischen
Ruinen usw. ergab. Denn wenn man bei den Bauwerken noch zu der vagen
Annahme fremder Stämme greifen konnte oder mochte, die ehemals so aus-
gedehnte und bedeutende Anlagen geschaffen hätten, — in der Plastik ver-
sagt durchaus solche Wendung, die gleichsam entschuldigend klingt. Denn
überall, wo wir Steinskulpturen vorfinden, handelt es sich um Arbeiten, die
denselben Stil noch annähernd wiederholen, der uns aus den späteren Kunst-
dingen bekannt ist. Sei es Nordwest-Guinea, die Osterinsel, seien es die
Marquesasinseln, sei es wiederum Kamerun, — überall stößt der Blick auf
gewohnte Stilgebung. Freilich mit einem eminenten Unterschiede, der zwi-
schen dem Alten und dem Neueren herrscht: in der Frühzeit ist alles noch
viel gewaltiger, ernster, orphischer, späterhin verweichlicht sich die Form
im ganzen wie einzelnen, wird geradezu naturalisierend, — und damit ist ja
das Ende einer Kunstepoche bezeichnet, sie sei so weit ausgedehnt, wie immer
sie wolle.
Ein gewisser Vorzug eines großen Teiles der späteren gegenüber der
älteren Kunst soll dabei keineswegs geleugnet werden. Er liegt in einer Zart-
heit und Anmut, die oft erstaunlich ist und die in der Vorzeit undenkbar
wäre. Vielleicht möchte man solche Wandlung auf eine äußerliche Art er-
klären und meinen, daß der Wunsch nach reicherer Bewegtheit diese zart
belebten Gesichtszüge und lächelnden Augen erzeugt habe. Das ist wohl
falsch. Eher liegt über so vielen der primitiven Masken und Ahnenbilder
etwas von dem gebreitet, was ein halbmedizinischer Ausdruck als die „Selig-
keit der Sterbenden“ (beatitude des mourants) bezeichnet, — ein Gefühl für
das Verwelken, das nicht bloß dem Ahnen- und Totenkult entsprungen zu
sein braucht, sondern eher der ganzen Lagerung der primitiven Lebens-
haltung überhaupt, da sie abstirbt, da sie hinwelkt, da sie innerlichst vom
Todeshauche durchatmet ist.
Der Höhepunkt der naturvölkischen Produktivität ist der vitale Geist, ihre
Mitte aber ist der Mensch, und zwar der Mensch als Körper aus Fleisch und
Blut, der zugleich irgendwie von geistiger Bedeutsamkeit und Lebenskraft
durchflossen ist. Alles andere ist nebensächlich. Die geistige Funktion als
solche: losgelöst von ihrem Zusammenhang mit dem Leiblichen, existiert

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