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DIE EPOCHEN DER URGESCHICHTE

Die Untersuchung der Naturvölker schien überall auf eine große Ver-
gangenheit hinzudeuten, deren Erbe nur noch in schwachem Abglanz bewahrt
wird. Und weit entfernt von der Stimmung rosiger Morgendämmerung und
ihren anscheinend unendlichen Versprechungen, schauten wir phantastisches
Abendgewölk, das vom untergehenden Gestirn noch schwach erleuchtet wird.
Ganz anders aber verhält es sich mit der europäischen Urgeschichte. Denn
hier ergreifen wir unsere eigene Vergangenheit, — oder doch eine Ver-
gangenheit, die wir einigermaßen als unser Eigentum betrachten dürfen. Ge-
wiß ist auch hier viel Zertrümmerung und tiefer Niedergang da und dort
wahrnehmbar, — wie sollte es in einer Weltgeschichte anders sein?! Aber
immer wieder scheint sich im wogenden Chaos eine neue Kristallisation ge-
bildet zu haben. Und wenn es auch fraglich bleibt, ob unser Europäertum
mit seiner rasend schnell wirbelnden Umwälzung der Staaten, Völker,
Künste, Techniken eine wahrhafte Entwicklung im Sinne einer Veredlung
und Steigerung gehabt hat oder gar bedeutet, so darf es doch einem heute
lebenden Europäer vergönnt sein, in der Erhöhung der persönlichen Willens-
energie das Ziel des Daseins zu erleben und bei der Rückwärtsschau in atem-
loser Spannung zu erspähen, wie die Vorstufen seiner immer klarer werden-
den Berufung sich gestalteten.
Solcher Rückblick hat etwas gleichsam Beruhigendes, wenn er diese
Wendung beibehält, — aber etwas ebensosehr Erschütterndes, wenn er aus
der Ferne der Vergangenheit zu sich heimkehrt. Denn dort in der Vor-
geschichte dehnen sich die Epochen in fast unermeßlicher Weite, da niemand
in die Zahl der Tausende und Hunderttausende von Jahren sein eigenes
Lebensbewußtsein gießen oder gar seine eigene Lebensdauer ihnen angleichen
kann. Aus solcher Endlosigkeit gleichförmigen Geschehens und Sichwieder-
findens stürzt der Gedanke mit um so eilfertigerer Schnelle zu sich zurück
durch Epochen, die deutlich meßbar, zu Menschen, die noch erlebbar sind,
und in immer eilfertigerer Hast vollzieht sich so das kleine Ebenbild der
europäischen Entwicklung: aus der ruhigen, träumerischen Breite endloser
Daseinsweite eilt zu konzentriertester Engigkeit willensmäßiger, höchst per-
sönlicher Krafterregtheit und dynamischer Spannung und unmittelbarer,
intellektuell geklärter und gerichteter Tatbereitschaft das europäische Gei-
stesleben immer klarer, geordneter, gespitzter in schicksalshaftem, unauf-
haltsamen Trieb nach vorn, — auch jetzt noch vor sich das Reich der Un-
endlichkeit, vielmehr: Endlosigkeit.

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