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IUphaels heilige Familien

besonderer Bedeutung ist dabei Raphaels außergewöhnlich differenzierte Auffas-
sung des Eil. Joseph, den er nie nur unter formalen Gesichtspunkten behandelt oder
in den genrehaften Typisierungen eines räumlich und emotional abgerückten,
ermüdeten oder mit prosaischen Aurgaben beschäftigten Schreinermeisters darge-
stellt hat, sondern dessen Hinzutreten zu Maria und Rind er stets thematisch
deutete. Raphaels Heilige Familien sind in dieser Hinsicht Schlüsselwerke für die
neuartige thematische Nobililierung des Joseph, wie sie sich im Übergang vom 15.
ins 16. Jahrhundert abzeichnet . Durch das Hinzukommen von Joseph zu Maria
mit dem Kind wird der Kreis der existentiellen Polaritäten ausgedehnt auf die
Gegensätze des Männlichen und Weiblichen, von Nährvater und Kind, Alter und
Jugend und auf ein erweitertes Spektrum körperlicher und seelischer Konstitutio-
nen. Die Heilige Familie umfaßt auf engstem Raum eine Totalität menschlicher
Beziehungen, in deren formaler und thematischer Differenzierung ein Künstler
auch außerhalb der historia die > Universalität seiner Malerei unter Beweis stellen
konnte1. Es ist denn kein Zufall, daß gerade in Raphaels Heiligen Familien die
Figuren in besonders intensiver und vielfälliger Weise kommunizieren, ja zum
ersten Mal miteinander zu sprechen scheinen: So hat man z. B. in der///. Familie
Canigiani (Abb. 36) den Eindruck, daß Joseph Elisabeth zuhört, und in der Hl. Fa-
milie mit dem Lamm (Abb. 54) wendet sich das Kind gleichsam sprechend an seinen
Nährvater. Die sinnliche Regungsfähigkeit der Figuren ist erweitert, und auch
dadurch bat Raphael einen neuen Spielraum für die thematische Interpretation
seiner Darstellungen hinzugewonnen: Aus den sinnlich-seelischen Relationen der
Figuren, ihrem Für-sich-sein und Aufeinander-Reagieren, ihren Blicken und Ge-
sten, ihrer kompositionellen und farbkompositionellen Ordnung hat Raphael das
Thema der Heiligen Familie jeweils unterschiedlich gedeutet.

Ein weiteres künstlerisches Hauptproblem dieser Gattung lag darin, die Heilige
Familie als eine anschauliche Größe sui generis, als Figurengruppe bzw. Konfigu-
ration darzustellen, so daß das Verbindende zwischen den Figuren als narrativer
Zusammenhang für den Betrachter verständlich wairde. In den Heiligen Familien
kann man denn besonders gut verfolgen, wie Raphael seine in den römischen
Jahren so glänzend beherrschte Kunst, mehrfigurige Gruppen und Konfigurationen
zu komponieren", in vorrömischer Zeit kontinuierlich und zügig ausgebildet hat:
DerWegvon Raphaels ersten Anfängen überdie///. Familie mit bartlosem Joseph,

I Siehe hierzu G. Kaster, Joseph von Nazareth, in: Lexikon der christlichen Ikono-
graphie, 1kl. 7, 1990, Sp. 210-221, bes. Sp. 212.

5 Zum Begriff universale siehe S. 340, Aiim. 154 und Leonardo, Tratlalo della pittura,
1989, S. 44, §75.

II II. Wölfflin, Die Klassische Kunst, 1924, S. 871'., I02IT., passim;R. Kuhn, Komposition
und Rhythmus, 1980, S. 4911'., 7411'.; Ders., Raffaels Entwurfspraxis, 1985, S. 51 IT.

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