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Raphael als >poeta mutolo<

Farbe, die der Betrachter des frühen 16. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der
zeitgenössischen visuellen Kultur- wie etwa Dolce - als >Farhe erloschener Kohlen<
und damit färb metaphorisch als »horribile colore« und Todesfarbe verstehen konn-
te 4>, was angesichts der drohenden Hinrichtung thematisch angemessen ist. Diesen
Aspekt hat Raphael noch durch die irreal leuchtende rote Linie des Gürtels an
Silvanus akzentuiert, der dessen Figur wie im anschaulichen Vorgriff auf den
blutigen Schnitt des bevorstehenden Schwerthiebs zerteilt. Berücksichtigt man die
ursprüngliche Stellung der Predella im Altarzusammenhang, ist Silvanus durch
seine Farbigkeit schließlich noch auf eine dritte, thematisch sinnvolle Weise gedeu-
tet, in der Farbmetapher eines betenden Hieronymus: In der Aufstellung der heute
getrennten Altarteile war genau über dieser Predella im Hauptbild (Abb. 40) Hie-
ronymus in seinem hellgrauen Büßergewand mit rotem Gürtel zu sehen. Die
farbikonographische Referenzebene für die farbmetaphorische Deutung des Silva-
nus als >zweiten Hieronymus< war im Altarzusammenhang damit anschaulich prä-
sent, koloristischer Typus und Antitypus beide gegenwärtig. Nicht abstrakt Hinzuge-
vvußtes, nicht eine trockene Bildungsattitüde hat Raphael hier dem Betrachter
abverlangt, sondern den anschaulichen Nachvollzug einer im zwischenbildlichen
Bezug innerhalb des Polyptychons gestifteten Farbmetapher, die auf thematisch
sinnvolle Weise einen Mann charakterisiert, der gerade wegen seiner Verehrung für
Hieronymus vom Tod bedroht wird, ja der Legende gemäß sogar Hieronymus mit
Namen gerufen wurde14. Gelehrten wie Ungelehrten wird dies anschaulich vermit-
telt **, und man mag schon an der komplexen Deutung einer solchen einzelnen
Figur verstehen, warum Raphael bereits im 16. Jahrhundert wegen der »invenzioni
mirabili« seiner Historien gerühmt wurde"'.

Für die weitere narrative Entfallung seiner hisioria ist die Gestalt des Silvanus
eine Schlüsselfigur: Raphael entwickelt von ihr aus den kompositionell-erzähleri-
schen Zusammenhang mit den übrigen Figuren in einer kunstvoll angelegten
thematischen und zeitlichen Mehrdeutigkeit nach drei Seiten hin. Im Verhältnis
zum Scharfrichter links erscheint Silvanus >noch< in der Haltung des die Hinrich-
tung Erwartenden, im Verhältnis zu den Gleichgesinnten auf der rechten Seite
>schon< in der Haltung des im Gebet Dankenden, im Verhältnis zum Enthaupteten
vor ihm als für den Toten Betender. Drei Zeitstufen der Erzählung sind damit in
dieser zentralen Figur gleichsam übereinander geblendet und gehen im Gang der

« L. Dolce, Dialogo, 1985, S. II r.

44 Legendenbericht bei G. Gronau, Zwei Predellenbilder von Raphael, 1908, S. 1077.

|r> Vgl. die entsprechende Forderung Albertis zur Darstellung einer hisioria (Della pittu-

ra, 1970, S. 117).
Hi L. Dolce, Dialogo della pittura, 1960, S. 192.

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