Camille Corot und Jean Francois Millet
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er die Natur, eine Silberpappel oder eine Frauengestalt, liebte, er
fand instinktiv immer den Standpunkt, der ihm erlaubte, die Er-
scheinung nur als Scheinbild zu genießen. Jene Silberpappel ist un-
zweifelhaft eine Silberpappel, man kann sie mit nichts anderem ver-
wechseln, aber von der Struktur ihrer Rinde, die er doch auswendig
weiß, verrät er uns nichts. Der Sinn für die Gesamtheit einer Er-
scheinung ist in ihm stärker entwickelt als in den anderen Lieb-
habern der Natur.
Er sagte einmal zu einem Kollegen, der ihn um das Geheimnis
seiner Malerei befragte: „Es kommt nur darauf an, immer zuerst
mit halbgeschlossenen Augen die großen Massen zu sehen“. — „Ja,
und wenn Sie die Details dann sehen wollen?“ — „Dann schließe
ich die Augen ganz.“ Schon vor der Natur malte er aus der Er-
innerung, malte er sein Gedächtnisbild. Das Charakteristische der
Einzelform hatte sich, dank intensivster Beobachtung, so tief in
sein Hirn gegraben, daß es ihm in jedem Augenblick so zu Ge-
bote stand, wie einem großen Dichter das entscheidende Wort.
„ Ich fange immer mit dem Schatten an. Das ist ganz logisch. Denn
der Schatten ist das, was am stärksten spricht, und deshalb muß man
mit ihm beginnen.“ — „In jedem Bilde gibt es einen leuchtenden
Punkt. Der muß allein bleiben. Man kann ihn hinsetzen, wohin man
will, in eine Wolke, auf eine Wasserspiegelung, auf eine Mütze. Aber
wichtig ist, daß diese Lichtstärke dann an keiner anderen Stelle des
Bildes wiederkommt.“ — „Was ich suche, ist die Form, das Ensemble,
der Gesamtton. Die Farbe kommt bei mir erst hinterher.“ — „Ich
male, wie ein Kind Seifenblasen macht. Die Seifenblase ist noch
ganz klein, aber rund ist sie schon. So male ich an meinem Bilde
immer gleichzeitig an den verschiedensten Stellen, bis der Gesamt-
effekt da ist.“
Was Corot da tut, ist schließlich nichts anderes, als was Dela-
croix auch tut: Er studiert weniger die Dinge der Natur, als daß er
die Natur befragt, wie sie zu ihrem Effekt kam; er belauscht sie beim
Schaffen und bemüht sich, ebenso vorzugehen wie sie. Wenn er weiß,
auf welchen künstlerischen Elementen die Wirkung einer Gesamt-
erscheinung vornehmlich beruht, weiß er genug. Auf ihn wirkt eine
Landschaft, wenn er die Augen schließt, durch das Spiel der großen
Massen oder durch den Aufbau der Töne in langsamer Stufenfolge
bis zu einem einsamen höchsten Lichtpunkt. Dies von vornherein
künstlerisch, malerisch, ja vielleicht mit artistischen Hintergedanken
belauschte Spiel der Wirkungen baut er nach und verwandelt die
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er die Natur, eine Silberpappel oder eine Frauengestalt, liebte, er
fand instinktiv immer den Standpunkt, der ihm erlaubte, die Er-
scheinung nur als Scheinbild zu genießen. Jene Silberpappel ist un-
zweifelhaft eine Silberpappel, man kann sie mit nichts anderem ver-
wechseln, aber von der Struktur ihrer Rinde, die er doch auswendig
weiß, verrät er uns nichts. Der Sinn für die Gesamtheit einer Er-
scheinung ist in ihm stärker entwickelt als in den anderen Lieb-
habern der Natur.
Er sagte einmal zu einem Kollegen, der ihn um das Geheimnis
seiner Malerei befragte: „Es kommt nur darauf an, immer zuerst
mit halbgeschlossenen Augen die großen Massen zu sehen“. — „Ja,
und wenn Sie die Details dann sehen wollen?“ — „Dann schließe
ich die Augen ganz.“ Schon vor der Natur malte er aus der Er-
innerung, malte er sein Gedächtnisbild. Das Charakteristische der
Einzelform hatte sich, dank intensivster Beobachtung, so tief in
sein Hirn gegraben, daß es ihm in jedem Augenblick so zu Ge-
bote stand, wie einem großen Dichter das entscheidende Wort.
„ Ich fange immer mit dem Schatten an. Das ist ganz logisch. Denn
der Schatten ist das, was am stärksten spricht, und deshalb muß man
mit ihm beginnen.“ — „In jedem Bilde gibt es einen leuchtenden
Punkt. Der muß allein bleiben. Man kann ihn hinsetzen, wohin man
will, in eine Wolke, auf eine Wasserspiegelung, auf eine Mütze. Aber
wichtig ist, daß diese Lichtstärke dann an keiner anderen Stelle des
Bildes wiederkommt.“ — „Was ich suche, ist die Form, das Ensemble,
der Gesamtton. Die Farbe kommt bei mir erst hinterher.“ — „Ich
male, wie ein Kind Seifenblasen macht. Die Seifenblase ist noch
ganz klein, aber rund ist sie schon. So male ich an meinem Bilde
immer gleichzeitig an den verschiedensten Stellen, bis der Gesamt-
effekt da ist.“
Was Corot da tut, ist schließlich nichts anderes, als was Dela-
croix auch tut: Er studiert weniger die Dinge der Natur, als daß er
die Natur befragt, wie sie zu ihrem Effekt kam; er belauscht sie beim
Schaffen und bemüht sich, ebenso vorzugehen wie sie. Wenn er weiß,
auf welchen künstlerischen Elementen die Wirkung einer Gesamt-
erscheinung vornehmlich beruht, weiß er genug. Auf ihn wirkt eine
Landschaft, wenn er die Augen schließt, durch das Spiel der großen
Massen oder durch den Aufbau der Töne in langsamer Stufenfolge
bis zu einem einsamen höchsten Lichtpunkt. Dies von vornherein
künstlerisch, malerisch, ja vielleicht mit artistischen Hintergedanken
belauschte Spiel der Wirkungen baut er nach und verwandelt die