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Camille Corot und Jean Francois Millet

Einzeldinge nach Maßgabe der so gefundenen Harmonie, als ein
Stück so und so heller Lichtfläche, als ein Stück so und so tiefer
Schattenfläche, als einen Punkt so und so dichter Farbe. Deshalb,
wegen dieser Stärke des Blickes für die Gesamterscheinung, ist seine
scheinbar so naive Kunst so schöpferisch und so zeitlos. Man kann
lernen, einen Eichenwald so zu sehen, wie Rousseau ihn sah. Und die
Welt hat es getan, und es kann so scheinen, als wären seine Bilder
etwas weniger wunderbar geworden in dem Augenblick, wo alle Welt
so zu sehen lernte, wie er malte. Aber die Natur so zu sehen, wie Corot
sie sah, kann man nicht lernen und will niemand lernen. Sie war,
ehe er den Pinsel ansetzte, in seiner Phantasie schon fertiges Bild;
von vornherein schon Kunst, zu Kunst verbraucht.
Und nun ist das Erstaunliche, das nur mit seiner Genialität zu
Erklärende, daß trotz dieses Artistentums, das nicht die Natur im
Bilde sah, sondern von vornherein das Bild aus der Natur heraussah,
daß trotz dieses gefährlichen Gaukelspiels die Kunst Corots nicht zur
Manier wurde, trotzdem der Mann ein Alter von achtzig Jahren
erreichte. Gewiß gibt es in seinem an Umfang riesigen Werk auch
manches Gleichgültige, manche Wiederholung und manche blutleere
Abwandlung eines Motivs. Er war ein sorgloser Mensch, und als ihm
einmal ein Empörter eine Corotfälschung brachte und den notleiden-
den Fälscher herzitieren wollte, malte er, gutmütig und weichherzig,
einen echten Corot auf den falschen hinauf. Er nahm es nicht
immer sehr genau mit sich. Aber im ganzen hat seine Kunst
durch das halbe Jahrhundert seiner Tätigkeit keine Schwächung
erlitten und ist nicht in spielerische Manier oder Zersetzung aus-
geartet. In guten Stunden ist sie auch im hohen Alter frisch wie
am ersten Tage. Er sah immer wieder neue Bilder, immer wieder
noch nie gesehene Effekte in der Natur.
Denn es trifft selbstverständlich nicht zu, daß er sich einfach
irgendwo vor die Landschaft setzt, die Augen halb schließt und dann
ganz schließt und dann anfängt zu malen, mit seinem berühmten
Losungswort: „Nur Mut“ („alors: confiance“). Er suchte sich, be-
wußt oder unbewußt, die Stelle in der Landschaft, an der vor seinem
Blick der Rhythmus der großen Massen die stillfließende Melodie
der Linien zeigt, die er, in seiner Schwärmerei über die Herrlichkeit
der Erde, in der Seele trug, ganz leicht, ganz schwebend. Seine Liebe
zur Formenschönheit ferner Inseln und Vorgebirge im Abendlicht,
zur ernsten Wohlgestalt bewegter Bäume und klarer Berglinien über
den weiten Ebenen gab ihm eine Komposition von einer Geschlossen-
 
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