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DER HAUPTMEISTER (DÜRER) UND DIE WENDUNG
ZUM REALISMUS IM HOLZSCHNITT

m Narrenschiff setzt sich eine starke Persönlichkeit gegen den Dichter
und den Formschneider durch, um kiinstlerische Forderungen zu
verwirkiichen, die sie selbst aufgestellt hatte. Dieses innere Anliegen
trieb den Reißer mit seinem Begehren weit über das hinaus, was ältere
Dfustratoren von sich, von ihrem Formschneider, ja von den Käufem der
Bücher verlangt hatten. Reißer und Formschneider sollten nach dem
Willen unseres KiiifStlers in einem umfassenderen und tieferen Sinn Emst mit der Wirklich-
keit machen, als bisher geschehen war. Vom Publikum erwartete er, daß es die spröden, gleich-
sam zerklüfteten Schaustücke in Schwarz-WeißdesNarrenschiffs denformal befriedigerenden,
abstrakteren und meist kolorierten Holzschnitten der Zeit vorzöge. Aber der Bilddruck ist
und bleibt eine von der Wirklichkeit stark abstrahierende Kunst. Wie sollte dem naiven
Betrachter nahegebracht werden, daß die kräftige Plastik der Gestalten, die vielfach
rmerfahrene Abbildung all der Dinge, die die realistische Darstellung ausmachen, den
formschönen, oft reizvoll kolorierten Gestaltungen der älteren Reißer vorzuziehen seien?!
Der reine Holzschnitt bot doch nur ein sehr begrenztes Feld für schlagkräftige, iiber-
zeugende Wiedergabe der Wirklichkeit. Die Skala der Töne war denkbar einfach, sie
bestand aus Schwarz und Weiß.

Das Experiment, das der Reißer anstellte, war ein Wagnis, das Bewährungsproben bereits
hinter sich hatte. Demselben Zeichner war schon ein Jahr zuvor die Illustration des Ritters
vom Tum anvertraut worden, Diirers Holzschnitt des Hieronymus von 1492 zielte in die-
selbe Richtung. Die Wendung zum Naturalismus im Holzschnitt lag in der Luft, wir
werden es noch sehen. Ohne verständnisvolle Mitarbeit von Verleger und Autor wäre
der Baseler Hauptmeister (Diirer) allerdings nicht dazu gekommen, seine Absichten zu
verwirklichen. In diesem Kreis ist man fiir die Neuemngen aufgeschlossen gewesen, und
dasselbe beobachten wir in Straßburg, wo 1493 die fortgeschrittenste und beste aller
Arbeiten dieser Art, die Kreuzigung eines Missale, in einem noch nicht zuverlässig
ermittelten Verlag erschienen ist.

Wenn die Narrenschiffbilder gelegentlich als schön bezeichnet worden sind — „wenn sie
nicht geradezu die schönsten sind, die im 15. Jahrhundert überhaupt gefertigt wurden“
meinte Zamcke —, so ist das eine Wertung, die heute kaum noch Eindruck macht. Das
Wort ist zu abgenützt. Bestenfalls sagt man „schön“ von den allgemein respektierten,
aber wenig gekannten Sachen, um sidi um eine verpflichtende Stellungnahme zu driicken.
Und man nimmt im Grande das, was man schön nennt, heute nicht sehr wichtig.

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