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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Lange, Konrad: Zur Philosophie der Kunstgeschichte
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0112
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BEMERKUNGEN.

Assoziationen religiöser Art hatten, muß aucli ihre Kunst der früheren überlegen
gewesen sein. Die gegenteilige Behauptung würde mindestens dieselbe Berech-
tigung haben. Es tritt uns eben hier das erste und gleich besonders frappante
Beispiel für die wichtige kunstphilosophische Wahrheit entgegen, daß die Blüte der
Kunst nicht immer mit der Blüte der übrigen Kultur Hand in Hand geht, sondern
zuweilen geradezu in einem Gegensatz zu ihr steht. Ich habe auf diese Erscheinung
— man könnte sie das Gesetz des Alternierens der geistigen Funktionen oder der
wechselnden Hegemonie der geistigen Fähigkeiten nennen — wiederholt hinge-
wiesen, zuerst in meiner »künstlerischen Erziehung der deutschen Jugend« (1893),
dann in meinem »Wesen der Kunst« (2. Aufl. 1907). Diese Hinweise sind aber
ziemlich unbeachtet geblieben, wahrscheinlich, weil sie dem hergebrachten geschichts-
philosophischen Schematismus widersprachen. Aber es ist doch klar, daß eine
Tätigkeit, die eine so spezifische Begabung wie die künstlerische voraussetzt, nicht
notwendig zur selben Zeit mit anderen Tätigkeiten, die auf ganz anderen Begabungen
beruhen, zur Blüte kommen muß.
Die naive Voraussetzungslosigkeit der paläolithischen Kunst, ihre Unabhängigkeit
von der gleichzeitigen Kultur hat etwas, was an die moderne Bewegung des Part
pour Part erinnert. Auch die Vertreter dieser zeichnen sich in der Regel nicht
durch höhere Bildung aus oder verleugnen sie jedenfalls beim künstlerischen Schaffen
völlig. Sie sind, wie Liebermann sagt, »Augentiere«. Sie haben den Blick nur
einerseits auf die Natur, andererseits auf die technischen Mittel ihrer Kunst gerichtet.
Um Assoziationen komplizierter Art, z. B. historische Traditionen, populäre Interessen
kümmern sie sich nicht. Der Gedankeninhalt ihrer Schöpfungen ist ihnen gleich-
gültig. Was sie bieten wollen, ist vielmehr reine Kunst, Kunst in Reinkultur.
Es ist sehr wichtig, daß Part pour Part, oder besser die Naturwahrheit an
der Spitze der Kunstentwickelung steht. L'art pour Part im strengen Sinne haben
wir auch hier freilich nicht. Denn diese primitiven Künstler waren zu ihren
Darstellungen offenbar nicht durch rein künstlerische Interessen, sondern durch
die Freude an der Jagd und am Genuß des Tierfleisches gekommen. Aber das
Resultat, die naive Naturwahrheit, ist dasselbe wie bei der Kunst um der Kunst
willen. Und da müssen wir uns denn sehr darüber wundern, daß diese Natur-
wahrheit, soweit wir wenigstens nachkommen können, nicht das Resultat eines
längeren Entwickelungsprozesses ist, sondern vielmehr am Anfang der ganzen Ent-
wickelung steht. Das ist für uns besonders deshalb auffallend, weil wir aus der
Kunst unserer Kinder wissen, daß die Erreichung der Naturwahrheit ganz außer-
ordentliche Schwierigkeiten macht. Erst ganz allmählich und nach Überwindung
unvollkommener Vorstufen gelangt das Kind zu dieser Höhe. Und merkwürdig,
diese Vorstufen zeigen eine auffallende Verwandtschaft mit der neolithischen und
Bronzezeitkunst, wie übrigens auch Verworn überzeugend nachgewiesen hat. Be-
kanntlich zeichnen Kinder zu Anfang gar nicht das, was sie von den Dingen sehen,
sondern vielmehr das, was sie von ihnen wissen. So geben sie z. B. das Nackte
unter der Gewandung wieder, bei Reitern, die sich im Profil präsentieren, beide
Beine statt eines u. s. w. Ganz ähnliche Züge zeigt auch die neolithische Kunst.
Wir sehen also, daß diejenige Stufe, welche in der Entwickelung des Individuums
die frühere ist, in der Entwickelung der Gattung erst später erreicht wird. Gewiß
keine Bestätigung des biogenetischen Grundgesetzes, wonach sich die Entwickelung
des Individuums in der Entwickelung der Gattung wiederholen soll. Freilich könnte
man sagen: Wer bürgt uns denn dafür, daß die Stufe der paläolithischen Kunst
wirklich die älteste ist, die der Mensch durchgemacht hat? Kann ihr nicht schon
eine lange Entwickelung vorangegangen sein, von der wir nur deshalb keine Zeug-
 
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