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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Groos, Karl: Das ästhetische Miterleben und die Empfindungen aus des Körperinneren
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0185
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DAS ÄSTHETISCHE MITERLEBEN.

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direkt auf der viel weiter entfernten Wand aufzusitzen, ja es hat sich
auch entsprechend dieser Einfügung verändert: es ist viel größer
geworden und es ist stark seitlich verzogen. In analoger Weise
können auch unsere Organempfindungen und mit ihnen unsere
emotionalen Zustände, da sie während der aufmerksamen Betrachtung
eines Gegenstandes nicht deutlich in unserem eigenen Leibe lokalisiert
sind, in das Objekt hinüberwandern und sich seiner Eigenart anzu-
passen suchen. — Diese Annahme leistet, wir mir scheint, in wesent-
lichen Punkten dasselbe wie die Lehre von Lipps, wonach das Ich
wegen seiner Unräumlichkeit überallhin in den Raum versetzt werden
kann (vgl. Ästhetik II, 430).
Hierbei kann man drei verschiedene Stadien auseinanderhalten.
Sind während der Betrachtung eines Objekts unsere körperlichen Ge-
fühle und Stimmungen, die den Ausdrucksformen des Dinges ent-
sprechen, überhaupt nicht merklich im eigenen Leibe lokalisiert, so
erfüllen sie einfach das Objekt: hieraus erwächst nicht nur eine be-
sonders günstige Bedingung für die ästhetische und religiöse Natur-
beseelung, sondern auch für das deutlichere Erleben der »wirklichen«
Gefühle in der Person, mit der wir reden; denn auch ihr müssen wir
so oder in einer abstrakteren Form unsere eigenen Gefühle »leihen«.
Sind nun die den Ausdrucksformen entsprechenden gefühlsreichen
Organempfindungen immer noch zu schwach und zu wenig deutlich
lokalisiert, um unsere Aufmerksamkeit von dem Gegenstand abzu-
lenken, aber doch stark genug, um eine kräftigere Wirkung auf
den Gesamtzustand des Bewußtseins auszuüben, so entsteht, wenn
sie die aktiv-motorischen Elemente der Unästhetischen Nacherzeugung
enthalten, jener Zustand, den wir in der nachträglichen Reflexion
als miterlebende Selbstversetzung in das Objekt bezeichnen, d. h.
der Zustand, um den es uns hier zu tun ist. Gehen wir endlich noch
einen Schritt weiter, so zerbricht die Lokalisation der Zustände in
unserem eigenen Leibe den Zauber der Selbstversetzung, und wir sind
gezwungen, »zu uns selbst zu kommen«, so daß wir mit verändertem
Sinne zitieren können: die Träne quillt — die Erde hat uns wieder1).
p An dieser Stelle muß ich nochmals die kritischen Bemerkungen von Lipps
berühren. Er sagt, die Anwendung der James-Langeschen Theorie führe zu der
widersinnigen Forderung, daß wir während der ästhetischen Betrachtung des Objekts
zugleich auf die körperlichen Organe »hinblicken« (II, 437), die körperlichen Vor-
gänge zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen müßten. »Diese Forde-
rung«, sagt er (II, 430), »stützt sich auf eine Tatsache, über die man nicht nötig
haben sollte, irgend jemanden zu belehren. Jedermann weiß, Vorgänge und Zu-
stände in meinem Körper können da sein, und an sich stark gefühlsbetont sein,
ohne daß ich doch das Lust- oder Unlustgefühl, das zu wecken sie an sich ge-
eignet sind, tatsächlich habe. Es braucht nur meine Aufmerksamkeit von ihnen ab-
 
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