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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Foth, Max: Die Raumillusion und die Unschärfe moderner Bilder
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0464
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BEMERKUNGEN.

Dieser illusionsstörende Widerspruch macht sich selbstverständlich am stärksten
geltend, wenn die verschieden weit gedachten Punkte des Bildes gleichzeitig »direkt«
gesehen werden, d. h. nahezu hintereinander liegen würden, wenn wir das Bild in
die räumliche Wirklichkeit zurückverwandeln könnten. Doch bleibt er auch dann
bemerkbar, wenn der Blick z. B. von einem scharf dargestellten Punkte vorn rechts
zu einem ebenso scharfen Punkte links hinten überspringt. Auf Grund tausend-
fältiger Erfahrungen erwartet das Auge, die Schärfe des Fernpunktes durch Abspan-
nung der Akkomodationsmuskel und durch größere Divergenz der Gesichtslinien
bewirken zu müssen; — statt dessen erweist es sich, daß der status qito erhalten
bleibt. Also auch hier Störung der Illusion.
In deutlichem Gegensatz zu der oben erwähnten Detailmalerei steht nun die
neuere Malweise. Das fast alle modernen Richtungen einigende Band besteht in
der mehr oder minder flüchtigen Behandlung der Einzelheiten. Womöglich gar
keine festen Umrisse, keine klaren Linien, mit einem Worte, ein Erheben des Ver-
schwommenen, des Unscharfen zum Prinzip! Kann sein, daß sich in diesem Um-
schwung unter anderem auch ein Wechsel der Weltanschauung äußert, wie Scheffler
es will, oder eine Reorganisation des psychischen Lebens, der Nervenfunktionen und
dergleichen. Es ist auch sicher keine Frage, daß der moderne Maler, ebenso wie
das moderne Publikum, nicht mehr wie ehedem das Bedürfnis empfinden, sich
liebevoll und still-beschaulich in die kleinsten Kleinigkeiten zu versenken, in den
Hausrat, in die Musterung der Kleiderstoffe, in die Buchstaben der aufgeschlagenen
Bücher, in die Einzelheiten der im Bilde etwa dargestellten Gemäldegalerie u. s. w.
Nur glaube ich — dies sei nochmals wiederholt —, daß neben diesem Allem sich
ein weiteres Moment geltend macht: ein unbewußter Drang, dem die neue Technik
entgegenkommt, der aber anderseits selbst dieser Technik ihre schnelle und allge-
meine Verbreitung mag gesichert haben. Dieser Drang scheint mir in dem instink-
tiven Wunsche zu bestehen, über einen Mangel der älteren Meister hinauszukommen.
Und wenn dieser Mangel in der Vernachlässigung jenes mehrfach erwähnten wich-
tigen optischen Gesetzes bestand, so ist die durchgehende Unschärfe moderner
Bilder jedenfalls ein Fortschritt gegenüber der peinlichen Genauigkeit der früheren.
Denn, während ein gleichzeitiges Scharfsehen mehrerer verschieden weit entfernter
Punkte einfach ein Ding der Unmöglichkeit ist, lassen sich solche Punkte sehr
wohl gleichzeitig unscharf wahrnehmen. Fixiert kann stets nur eine Stelle des
Raumes werden; nicht fixiert, d. h. also unscharf gesehen dagegen eine zahllose
Menge. Eine impressionistisch behandelte Bildfläche entspricht somit unseren nor-
malen Gesichtseindrücken weit eher, als etwa die Bildflächen Raffaelscher, Signo-
rellischer oder Dürerscher Gemälde.
Allerdings nur eben »weit eher«, — nicht völlig. Immerhin ist eine allgemeine
Unschärfe, wenigstens in Ausnahmefällen, tatsächlich möglich, eine allgemeine
Schärfe hingegen niemals. Einer dieser Ausnahmefälle tritt beispielsweise ein, wenn
wir (was freilich nicht eines Jeden Sache ist) einen imaginären Fixationspunkt
wählen, der vor oder hinter den unser Sehfeld erfüllenden Gegenständen liegt. Es
werden dann alle diese Gegenstände nicht fixiert, also unscharf sein. Ein zweiter
Fall ist der, wenn ein sehr kurzsichtiges Auge ohne Brille ins Freie schaut und
infolge seines ungenügenden Brechungsvermögens ebenfalls alles unscharf sieht.
Aber dergleichen Ausnahmen können doch nichts an der Tatsache ändern, daß die
impressionistische oder überhaupt moderne Malweise auch noch nicht völlig zweck-
entsprechend ist. Zwar bedeutet sie einen großen Schritt zur Ein- und Durchfüh-
rung eines neuen Gesetzes der Darstellung, das an Wichtigkeit nicht hinter denen
der Perspektive oder etwa der komplementären Schatten zurücksteht, aber das Ziel
 
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