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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0480
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BESPRECHUNGEN.

restlos in die Materie, in das Bild eingegangen ist und es ganz und gar zum Aus-
druck ihrer selbst gemacht hat. Nicht deshalb wirkt ein Objekt erhaben, weil es
nur endliche, unvollkommene Erscheinung eines Unendlichen ist, sondern im
Gegenteil dadurch, daß es uns vermöge unbegreiflicher Schöpferkraft der unbe-
wußten Natur oder des bewußten Künstlers im Endlichen das Unendliche ahnen
läßt. Das erhabene Objekt zeichnet sich vor dem nicht-erhabenen ja gerade da-
durch aus, daß es ein geistig Unendliches in oder an sich trägt, daß es eine voll-
kommenere Realisierung der Idee im ästhetischen Sinne bedeutet. Warum sollte
auch ein Objekt erhebend wirken, das uns die Schlechtigkeit der Welt zum Be-
wußtsein bringt? Das wäre Widersinn! Das Erhabene oder Erhebende kann doch
nur darin liegen, daß uns ein Etwas entgegentritt, das uns die Schlechtigkeit der
Welt vergessen macht, nicht aber sie doppelt schwer fühlen läßt.
Mit diesen Überlegungen fällt auch Seidls Deutung des Schönen im banalen
Sinne, als ob das Nächstliegende dabei immer nur der »angenehme Augenschein«
sei im Gegensätze zur charakteristischen Herbheit des Erhabenen, und als ob nur
das Schöne sich an das Vertrauen des Betrachters wende, während das Erhabene
ihn durch gleichsam feindliche Übermacht überwältige. Vielleicht ließ Seidl sich hier
von Schopenhauer leiten, der vom erhabenen Objekte glaubt, daß es zunächst das
reale Interesse des auffassenden Subjektes feindlich und erdrückend berühre. Nun
mag es ja gewiß erhabene Objekte dieser Art geben (der empörte Ozean mit
seinen Untergang drohenden Wogen). Darum erschließt sich aber doch der er-
habene ästhetische Gehalt — und gerade dieser in erster Linie — nur dem, der
innere Ruhe genug besitzt, sich dem erhabenen Objekte rückhaltlos und vertrauens-
voll hinzugeben und ganz in ihm zu versinken. Seidl hätte gut getan, sich in
diesem Punkte die Meinung Dessoirs zu eigen zu machen, dem er ja doch sonst
wichtige Bestätigungen seiner Auffassung entnimmt.
Damit erledigt sich nun aber auch Seidls Meinung, daß das Schöne ein Kom-
promiß, das Erhabene die Aufdeckung und Bestätigung dieses Kompro-
misses sei. Gedrängt durch die Tatsachen nimmt Seidl selbst, wie wir schon
wissen, noch ein Absolut-Schönes an, als Gattungsbegriff, dem sich das Schöne
im engeren Sinn und das Erhabene als Arten unterordnen. Als die Parole der
Zukunft bezeichnet er: »Nicht mehr entweder ,Schön' oder ,Erhaben', sondern
Vereinigung beider, höhere Synthese im Kosmos.« Den naheliegenden Einwand,
daß sein Absolut-Schönes nun doch wieder ein Kompromiß des aufgedeckten Kom-
promisses bedeute, sucht er zu entkräften durch eine komplizierte Konstruktion,
welcher in allen Einzelheiten nachzugehen schwierig und wenig lohnend ist.
Seidl vermengt das künstlerische Schaffen mit dem im Kunstwerk versinn-
lichten Gehalte, da er Beethovens Skizzenbücher anführt als Bestätigung seiner
eigenen pessimistischen Auffassung vom Erhabenen. Die Tatsache, daß Beethoven
seine musikalisch-künstlerischen Gestaltungen dem Stoff erst abringen, daß er, um
das Unendliche zu versinnlichen, mit dem Endlichen kämpfen mußte, und das in
dem Ergebnis sich dokumentierende schließliche Überlegensein des menschlichen
Geistes über die schnöde Materie — diese Tatsache ist bedeutsam für die Psycho-
logie des künstlerischen Schaffens und wirkt vielleicht selbst erhaben im menschlichen
Sinne als künstlerische Pflichterfüllung eines vom Schicksal schwer Getroffenen;
sie hat aber mit der künstlerischen Beschaffenheit des erzeugten Werkes nichts zu
tun und kann nicht angeführt werden als Beweis dafür, daß nun das Erhabene
selbst einen Widerstreit der Idee gegen die Realität oder eine Störung der im
Schönen angeblich liegenden Pseudo-Harmonie bedeute.
Als unhaltbar erweist sich auch Seidls Bemühen, das Musikalisch-Erhabene im
 
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