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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Kreibig, Josef Klemens: Beiträge zur Psychologie des Kunstschaffens
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0546
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JOSEF KLEMENS KREIBIG.

jekt und Objekt, sondern die höchste Stufe der Lebendigkeit der
Phantasie, auf der die vorgestellten Gegenstände ähnlich wie äußere
Wahrnehmungsobjekte ins Bewußtsein treten.
Da nun nach dem Gesetze der Enge des Bewußtseins bei solchen
Konzentrationen die Dinge und Vorgänge der gewohnten äußeren
Umgebung nicht in den Bereich der Aufmerksamkeit fallen und un-
bemerkt bleiben, so können wir als Faktum hinnehmen, daß der Künstler,
was das äußere Leben und dessen Interessen anlangt, unbewußt kon-
zipiert; für die Bilder der Phantasie selbst ist sein Bewußtsein freilich
von maximaler Helligkeit. Die Vorstellungen im ersten Stadium des
Schaffensprozesses knüpften sich entweder an wahrgenommene Dinge,
Personen, Vorgänge oder an Erinnerungsvorstellungen und treten nach
den allgemeinen Gesetzen der Ideenassoziation in das Bewußtseinx).
Auch das künstlerische gedankliche Produzieren ist kein freies in dem
Sinne, daß es etwa dem Satze vom zureichenden Grunde entrückt wäre,
es ist nur insofern frei, als die Lenkung des Vorstellungslaufes viel
weniger durch äußere Einflüsse (sinnliche Objekte, Denken und Wollen
anderer Menschen) als durch die innere Verfassung des Schaffenden
p Die ersten Grundvorstellungen, aus deren Umgestaltung und Angliederung
sich die Kunstwerke entwickeln, werden in der Regel von einzelnen Wahrnehmungen
oder Erlebnissen angeregt. Wir wissen aus Dichtung und Wahrheit, wie Goethe
auf sein Gretchen kam, wodurch ihm der Charakter der Iphigenie, der Konflikt des
Tasso nahegelegt wurde; die Schwester eines Freundes, die Paarung von Würde
und Wärme bei Frau von Stein, der Gegensatz seines Dichterberufes zum Hof-
dienste lieferten jene Motive. Sehr bezeichnende Beispiele dafür, wie viel Goethe
der Betrachtung von Gemälden und Skulpturen, den Schilderungen von Bildern ver-
dankt, lieferten u. a. Wickhoff und Szanto (Chronik des Wiener Goethe-Vereines
Bd. 14, 1901). Die ersten Anregungen zur Jungfrau von Orleans, zum Don Carlos
und Wallenstein sind aus den historischen Arbeiten Schillers bekannt, und in letzter
Zeit konnten sogar die Geschichtsquellen und novellistischen Vorlagen der Shake-
speare-Dramen genau festgestellt werden. Daß eigentlich alle großen Epiker,
Homer an der Spitze, mit ihrer Erfindung an überlieferte Erzählungen angeknüpft
haben, bedarf wohl keiner Exemplifikation. — Was wir hier für die Dichtung bemerkt
haben, gilt offenbar in verschärfter Weise für Maler und Bildhauer, welche (abge-
sehen von den Modellen und Naturmustern für die Ausführung) einer anschaulichen
Entstehungsgrundlage ihrer Werke noch weniger entraten können. Selbstverständ-
lich liefert auch die Musikgeschichte Belegfälle in großer Zahl. Der köstliche zweite
Satz (Scherzo in b-Dur) der achten Symphonie Beethovens verdankt seine Figur
dem Ticken des Mälzelschen Metronoms; die beiden Grundmotive des fliegenden
Holländers von Richard Wagner entstanden aus den Eindrücken eines Sturmes an
der norwegischen Küste, und Mendelssohns Hebriden-Ouvertiire geht thematisch
auf den Höreindruck der Brandung bei der Insel Staffa zurück.
Anscheinend völlig frei, ohne stützende Grundlage erfundene ästhetische Gebilde
pflegen den Charakter des reflexionsmäßig Gemachten deutlich an sich zu tragen;
übrigens sind auch die Elemente solcher Gebilde einem Erinnerungsmosaik ent-
nommen.
 
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