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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 4.1909

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Kreibig, Josef Klemens: Beiträge zur Psychologie des Kunstschaffens
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https://doi.org/10.11588/diglit.3531#0562
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JOSEF KLEMENS KREIBIG.

Anschauung für den Kern des genialen Verhaltens und die »Phantasie
als unentbehrliches Werkzeug«.
Anders Nietzsche, dieser Modernste der Modernen. Für ihn ist
wenigstens in der ersten großen Schrift »Die Geburt der Tragödie aus
dem Geiste der Musik« die dramatische Kunst und jede andere ein
Ergebnis des Zusammenwirkens zweier Triebe, nämlich des dionysi-
schen (der zum Willensgebiet gehört) und des apollinischen (eine Be-
tätigungsform des Intellekts). Das dionysische Prinzip beherrscht das
Gemüt im Stadium der Konzeption; es stellt einen wilden, instinkt-
mäßigen Drang zum lebensbejahenden Vereinigen mit der Natur dar.
Dagegen kommt dem Apollinischen die kunstbildende Aufgabe der
zähmenden Formgebung, der Setzung des ästhetischen Maßes und der
Harmonie mit Hilfe des Denkens zu, so daß diesem Prinzip als Be-
reich die Komposition und zum kleineren Teil auch die Koadaption
zufällt. Übersetzen wir diese großzügigen Ideen in unsere gemäßigte
Sprache, so liegt in ihnen die Bestätigung der auch von uns ver-
tretenen Anschauung, daß das Wesen des Kunstschaffens in einem
doppelten Prozeß gelegen ist, in jenem vorwiegend unterbewußten,
unter tiefster Erregung des Gemüts sich vollziehenden Erfassen der
Grundvorstellungen einerseits (das wir als Seitenstück der bewußten
Phantasie erkannten) und der bewußten, aktiven Schöpfung von Gestalt-
qualitäten anderseits. Zum praktischen Vollenden mustergültiger Werke
bedarf es aber, wie wir bereits ausführlich darlegten, auch der dritten,
allerdings nicht das Genie als solches charakterisierenden Funktion
des logischen Ausgleichens und Verknüpfens, das als Leistung der
kritischen Vernunft anzusehen ist. Von allen diesen persönlichen
Voraussetzungen des Zustandebringens von Kunstwerken besitzt der
normale Durchschnittsmensch, das sei ohne falsche Scham einge-
standen, nicht mehr als die ersten Ansätze oder bestenfalls ein be-
scheidenes Maß — in diesem Sinne erscheint uns das Genie als
»Übermensch«, wie bereits Goethes Erdgeist sich ausdrückte. Nicht
in der Emanzipation von der echten, mannhaften Sittlichkeit und Wahr-
heitsliebe, sondern in jener unerhört fruchtbaren und gewaltigen
Phantasie liegt das Kennzeichen des Übermenschen der Kunst. Und
ist er auch kein Wunder, das die unerbittlichen Gesetze des Natur-
laufs aufhebt, so bedeutet er doch gewiß die seltenste und köstlichste
Blüte der großen aufwärtsstrebenden Menschheit.

des Genies: es ist ihr Adelsbrief« (444). »Das Talent vermag zu leisten, was die
Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der übrigen überschreitet:
daher findet es sogleich seine Schätzer« (447).
 
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