Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

DOI Artikel:
Völpel, Robert: Zum Formproblem der antiken Tragödie
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0197
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
192 BEMERKUNGEN.

in jeder einzelnen Tragödie zu erkennen: es handelt sich um die Bestimmung der
Tragödie als eines Ganzen durch die Zahl als Kategorie der Größe, als Maß. Ließ
sich von der griechischen Tragödie im allgemeinen sagen, sie habe eine bestimmte
Größe, so war dem Dichter das Maß nicht nur als Versmaß das Mittel zur Ge-
staltung der Rede, der poetischen Diktion im Gegensatze zur Prosa, sondern als
Ganzes erhielt jede einzelne Tragödie ihre Bestimmung; der Begriff des metron ist
zu dem platonischen metriotes ([aetoiöxy)?) zu erweitern und durch ihn zu ergänzen.
Die heutige Metrik als philologische Wissenschaft läßt, uns hier im Stich; sie
kennt nur das Maß als Versmaß und behandelt nur Versmaße, Versfüße, Wörter,
Silben und Buchstaben. Daher ist ihr das sich aus Aristoteles' Definition ergebende
Problem unbekannt und steht außer Diskussion. Damit hängt es zusammen, daß
die pythagoreische Philosophie, deren entscheidende Bedeutung für die Entwick-
lung und Theorie der antiken Kunst und deren mächtiger Einfluß auf die gesamte
Entwicklung der antiken Philosophie keineswegs unbetont bleibt, trotzdem zumeist
mit dem rationalistischen Lächeln des Besserwissens über diese »naiven« Anfänge
des Denkens dargestellt und bewertet wird. Sich die metrische Untersuchung der
griechischen Tragödie als Einheit durch das Schlagwort »Zahlenmystik« unmöglich
zu machen, verbietet die Autorität des Aristoteles und das Gewicht jener Definition,
die noch dieses neue Problem in sich birgt, so viel sie auch behandelt worden ist.
Hat nämlich die antike Tragödie im allgemeinen und jede einzelne im besonderen,
was beides jene Worte der Definition gleichzeitig besagen, eine bestimmte Größe,
so muß sich diese an den erhaltenen auch heute noch feststellen lassen. Sehen wir
also einmal zwei relativ vortrefflich erhaltene Dramen daraufhin an: des Sophokles
Elektra und König Oidipus.

Die Prologszene der Elektra zeigt uns Orest mit dem Pädagogen, die Szene
umfaßt 84 Verse. Nachdem beide abgegangen, tritt Elektra allein auf die Bühne.
Es folgt die Parodos des Chores, die Unterredung der Elektra mit dem Chore zu-
nächst im lyrischen Wechselgesange, dann gesprochen im Versmaße des jambischen
Trimeters (bis Vers 327 der Ausgaben). Nun beginnt das erste Epeisodion — in
der eigentlichen Bedeutung des Wortes das Hinzu-Auftreten des zweiten Schau-
spielers zum ersten — die Szene zwischen Elektra und Chrysothemis; diese um-
faßt von Vers 328—471 einschließlich genau 144 Verse. Chrysothemis geht; es
folgt ein Chorlied. Danach das Auftreten der Klytaimnestra; diese Szene zwischen
ihr und Elektra hat von 516— 659 wiederum 144 Verse. Der Pädagog kommt hinzu
und bringt die fingierte Nachricht von Orestes' Tode, die erste Szene des Dramas,
in der die drei Schauspieler zugleich auf der Bühne sind; sie beginnt mit Vers 660
und schließt mit 803, hat also ebenfalls 144 Verse. Die drei aufeinander folgenden
Epeisodien haben also je 144 Verse. »Zufall« wird man einwenden. Nichts in der
Welt ist Zufall, auch nicht die Tatsache, daß diese auffallende Übereinstimmung
der Größe dieser drei Epeisodien in einer Wissenschaft gänzlich unbeachtet geblieben
ist, die von jeher die Betrachtung des einzelnen der des ganzen vorzog. Sehen
wir weiter zu! Die Entwicklung der Handlung wird übersichtlicher, wenn wir sie
metrisch schematisieren. Die einzelnen Szenen sind gegeneinander abgegrenzt durch
das Auftreten oder den Abgang einzelner oder mehrerer Personen oder durch die
Änderung des Versmaßes. Die Personen, welche zugleich auf der Bühne sind,
stehen untereinander, die darunter stehende Zahl gibt den Umfang der Szene an.
Die lyrischen Partien sind durch einen Kreis, die Kommoi durch ein Viereck kennt-
lich gemacht.
 
Annotationen