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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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Völpel, Robert: Zum Formproblem der antiken Tragödie
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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0200
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BEMERKUNGEN. 195

Exposition I. Epeis
300 163

Diener, der einzige Überlebende, welcher mit Laios auszog, gibt ihm Gewißheit
über seine Abkunft. Diese zweite Anagnorisis ist mit Vers 1182 der Ausgaben be-
endet: loa tou, t<x itävt' äv l^xoi cacpj mit der pathetischen Anrufung des Lichtes,
das er nun nicht mehr sehen wird. Die psychologische Entwicklung der Hand-
lung vom Standpunkte der Hauptperson aus macht es notwendig, den Höhepunkt
und bedeutsamsten Einschnitt der Handlung in der Vollendung der Anagnorisis zu
sehen. Und wie sollte es da zufällig sein, daß mit ihr eine ohne weiteres deut-
liche Responsion der Teile zusammenhängt? Nämlich (die außer Responsion
stehenden Chöre bei leerer Szene nur durch einen Kreis angedeutet):

„. Epeis. J- A-f °" III. Epeis. \ A^0" Exodos

Q 163 | 74 109 O 162 | 109 | Ö 74 I 216
Oder im Schema: Exposition, a. X a. b. c. X a. c. x b. Exodos.
Es ist nicht anders möglich: Die Eurhythmie war dem antiken Dichter nicht
nur das Prinzip der Gestaltung der Rede und des Gesanges, sie war es ebenso für
die Entwicklung der Handlung, für die Komposition des Ganzen. So gut es einen
Kanon des Polyklet gab, hat es einen für die Technik des Dramas gegeben. In
welchem Verhältnis standen die Teile zum Ganzen? >Die notwendigen Propor-
tionen müssen aus der Gesamtheit der Kunstwerke stets neu geschaffen werden
und neu resultieren, nicht aber darf die Gesamtheit die Addition von feststehenden
Einzelproportionen sein« (Hildebrand, Problem der Form). Gab es eine bestimmte
Größe der griechischen Tragödie, so ging der Dichter bei der Komposition der ein-
zelnen von ihr aus. Damit ist nicht gesagt, daß diese Größe konstant geblieben
sei, während sich das Drama geschichtlich entwickelte; jedenfalls sind mit Aristo-
teles bestimmte elSv) zu unterscheiden. Die Anwendung der antiken Proportions-
lehre im Rahmen des Dramas sei hier nicht weiter verfolgt. Daß sie in Betracht
kommt, beweist ebenfalls die aristotelische Definition: m^Yiai? jtpa£e<D<; teXsia;. Das
bedeutet viel mehr als »in sich abgeschlossen«, man denke nur an die äpi^jioi

Ttkst.01.

Es kann hier nicht beabsichtigt sein, das Problem der Eurhythmie in seinem
ganzen Umfange darzustellen; denn es ist das Problem der gesamten antiken Kunst.
Man halte einmal unter dem formalen Gesichtspunkte Hofmannsthals Übersetzungen
jener beiden Dramen (oder meinetwegen Neuschöpfungen) neben die Originale,
um den weiten Abstand beider und die Ahnungslosigkeit des modernen Dichters
gegenüber dem eigentlichen Formproblem zu sehen. Von der klassischen Philologie
ist auf diesem Wege nicht viel Förderung zu erwarten; die Autorität auf diesem
Gebiete hat eine Warnungstafel aufgestellt, »Irrwege und Irrwische« steht darauf.
Dementgegen ist zu betonen, daß die Zahl das Prinzip der Form ist, welches die
idealistische Kunst von der Formlosigkeit des Naturalismus und der Willkür der
Romantik scheidet und sie über beide erhebt. Die Anregungen, die in dieser Frage
von Wilhelm v. Humboldt ausgingen, sind fortzuführen. »Humboldt beruft sich
auf die ägyptische Skulptur und stellt ihr die geringere künstlerische Wirkung Ber-
ninis gegenüber. Daher solle die Kunst nicht von Nachahmung der Natur, sondern
von der Mathematik, der Urharmonie der Gestalten, ausgehen. Der Künstlersinn
muß von diesem reinen Sinn für Gestalt und Eurhythmie anfangen, sich durch die
Natur bis zu diesem durcharbeiten und dann freilich, indem er der Natur immer
treu bleibt oder vielmehr erst so recht treu wird, diesen Sinn wieder in seinem
Werk ausdrücken« (Walzel).
 
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