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Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft — 13.1919

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https://doi.org/10.11588/diglit.3622#0338
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BESPRECHUNGEN. 333

nicht historisch belastet zu sein und doch annähernd dasselbe auszudrücken, was
Scheffler mit seinen Kategorien beabsichtigt.

Nach einem hübschen einleitenden Kapitel, das zu der einseitig auf das grie-
chische Schönheitsideal eingestellten klassizistischen Kunstrichtung in mustergültiger
Weise Stellung nimmt, führt Scheffler uns in den Hauptteil seines Buches über,
der die beiden Formwelten des Griechischen und Gotischen zum Gegenstande hat.
In den nun folgenden Ausführungen über das Wesen des Griechischen und Goti-
schen verfällt Scheffler zuweilen in den Fehler, daß er die von ihm selbst be-
stimmte Tragweite seiner Begriffe vergißt und eine Charakteristik dieser beiden
Form weiten gibt, die lediglich auf die historischen Zeiträume der griechischen und
gotischen Kunst anwendbar sind. So sagt er z. B. daß »der Geist der Gotik sich
in Massenkundgebungen auslebe« oder »was im Griechischen ein Saal ist, das wird
im Gotischen zur Halle«, oder daß vom gotischen Menschen mit Vorliebe die Vertikal-,
vom griechischen mehr die Horizontalrichtung betont werde. Es ließen sich noch
zahlreiche ähnliche Beispiele nachweisen, ja man könnte ganze Seiten zitieren, die
mit kleinen Ausnahmen denselben Fehler aufweisen.

Aber was versteht denn nun Scheffler überhaupt unter dem Griechischen und dem
Gotischen? Aus seiner Darstellung ergibt sich folgendes Bild. Die Kunstwelt des Grie-
chischen ist durch ihren formalen Charakter ausgezeichnet. Das Formprinzip als solches
steht an erster Stelle und gilt als unverletzlich. Die Reinheit, die Klarheit der Form
wird zum Höchsten, ja, zum Selbstzweck erhoben. So kommt es, daß die Formen
selbst dort, wo »sie allgemein leer in der Empfindung bleiben, immer doch tech-
nisch und handwerklich einwandfrei sind«. Es entspricht dieser Hochschätzung der
Form, wenn ihr eine eigene hohe Stellung im Gefüge des Kunstwerks zuteil wird:
sie repräsentiert. Es ist eine Folge dieses griechischen Formgefühls, daß auch in
substantieller Hinsicht ein gewisses Gleichmaß begünstigt wird. Man meidet den
zu lebhaften Affekt als Störer der Schönheit, die neben der Form den Charakter
des Griechischen entscheidend bestimmt, und sucht überall »die Formen der Ruhe
und des Glücks«. Denn auch das heftige Leid trübt gleich der allzu starken seeli-
schen Erregung die Ebenmäßigkeit der schönen Form. Das unvollkommen Physische
wird im Griechischen auf die Stufe der höchsten Schönheit gehoben, indem es von
allen ihm zufällig anhaftenden Mängeln befreit wird. So dringt überall das Typische
durch.

Wie das Griechische durch die Form, so wird das Gotische durch den Ausdruck
beherrscht. Die Idee, der substantielle Bildgedanke steht im Mittelpunkt des Werkes,
nicht, wie häufig im Griechischen, der formale. Und so stark, so hinreißend ist
die Kraft dieser inneren Sprache, daß selbst da, wo die äußere Form nicht aus-
reicht, wo überall technische Mängel sichtbar werden, der innere Zustand voll-
kommen ausgedrückt wird. Manchmal überwuchert die Idee im Gotischen die
Form so sehr, daß diese erdrückt wird; sie verliert allen Eigenwert und sinkt zum
symbolischen Träger der Idee herab. »Die Übersteigerung ins Symbolische aber
ist, wie die ins Psychische, einer der wesentlichen Züge alles Gotischen.« Und wenn
die griechische Kunst nach Glück und Ruhe strebt, als dem sichersten Wohnsitz
der Schönheit, so drängt die gotische Kunst nach der Seite »der Unruhe und des
Leidens«. Erst in der inneren Bewegung, in der Steigerung aller Empfindungen
über das Durchschnittsmaß hinaus, kann sie ihren wahren Charakter offenbaren.
Sie sucht die menschliche Seele da auf, wo diese im Kampfe mit sich selber ist,
wo sie alles Äußerliche abgeschüttelt hat, wo sie einzig und allein der inneren
Stimme lauscht. Sie legt alle seelischen Empfindungen dar; sie fragt nicht nach
Schönheit, Klarheit und Ruhe; die innere Bewegung, die Offenbarung dessen, was
 
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